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Aufstand der Heimatlosen

Afrikanische Immigranten streiten in Frankreich um ihr Recht. Der Staat ist hilflos: Gestern stürmte die Polizei eine besetzte Kirche – sie bleibt besetzt  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Aufhören?“ Madjiguene Cissé lacht laut und trocken. Dabei wirft sie den Kopf mit den zusammengebundenen kleinen Zöpfchen in den Nacken und zeigt Zähne, die wie Perlen glänzen. „Natürlich machen wir weiter“, sagt sie und weist auf den Notizblock, auf dem sie die Aktivitäten für den Tag notiert. Die Liste wird ständig länger: eine Vollversammlung, eine Demonstration, die Suche nach den Geräumten.

Gerade sind mehrere Hundertschaften Einsatzpolizei aus der Kirche Saint-Bernard abgezogen. Zwei Stunden lang – von sechs bis acht Uhr – haben sie gestern früh die dreihundert AfrikanerInnen aus Mali, Senegal und Mauretanien in der Kirche im Norden von Paris festgehalten. „Sie kamen mit Schlagstöcken und mit Pistolen“, berichtet eine Frau in gebrochenem Französisch. Eine andere schimpft: „Unsere Kinder durften nicht einmal aufs Klo gehen.“

Am Ende haben die Polizisten zehn Männer mitgenommen, die seit 38 Tagen im Hungerstreik waren, um Aufenthaltsgenehmigungen zu bekommen. „Aus humanitären Gründen“, wie das Innenministerium erklärt. Jetzt sind die Männer auf sechs Pariser Krankenhäuser verteilt, und die Ärzte sollen feststellen, ob sie haft- und abschiebefähig sind oder erst gesundgepflegt werden müssen.

In die erste Altarnische rechts neben dem Eingang von Saint- Bernard, wo die zehn geschwächten Männer in den letzten Tagen eingewickelt in Wolldecken auf ihren Matratzen gelegen haben, sind schon Nachrücker eingezogen. Diesmal sind es sieben Männer und drei Frauen. „Wir bleiben – bis zum Tod, oder bis zur Abschiebung“, erklärt eine junge Frau, „wir haben gar keine Wahl.“ Vor sieben Jahren ist sie ihrem Ehemann, einem Malier mit Aufenthaltsgenehmigung, nach Frankreich hinterhergereist. „Normal, oder?“ sagt sie. Sie hat zwei Kinder bekommen und ihr Leben in Paris eingerichtet. Aber irgendeine Aussicht auf Aufenthaltspapiere hat sie nicht. Ihr Asylantrag war schnell gescheitert. Sie hatte ihn gestellt „wie fast alle Malier“, denn „manchmal klappt es ja“. Seither verzichtete die junge Frau auf weitere Behördengänge. Als nach der Unabhängigkeit geborene Malierin und als Mutter nichtfranzösischer Kinder weiß sie, daß sie keine Chance hat.

Der Mauretanier: „Selbst Hunde leben besser“

Im März haben die „Papierlosen“, wie sie sich nennen, ihre Aktion begonnen. Sie verließen die Heimlichkeit, in der die meisten von ihnen seit Jahren lebten, und gingen an die Öffentlichkeit. „Unsere Situation war unerträglich“, erinnert sich ein Mauretanier, seit acht Jahren in Frankreich. Während der ersten vier Jahre war er „legal“ im Land, zahlte Steuern und Sozialversicherung. Dann lief seine Aufenthaltsgenehmigung aus, und ihm blieb nichts anderes übrig, als sich unter das Dach seines Bruders zu flüchten und sich mit kleinen Jobs durchzuschlagen. Ärztliche Versorgung, Urlaub, staatliche Unterstützung – all das gibt es seither für ihn nicht mehr. Wenn er uniformierte Vertreter des französischen Staates sieht, muß er befürchten, kontrolliert und abgeschoben zu werden. „Selbst Hunde leben besser als wir“, sagt er.

Aus der ersten Kirche, die die „Papierlosen“ im März für eine Besetzung ausgewählt hatten, wurden sie schon nach wenigen Tagen vertrieben. Der Pfarrer von Saint- Ambroise im elften Bezirk löschte das ewige Licht in seinem Gotteshaus und rief die Polizei. Ein paar Besetzer wurden umgehend nach Mali abgeschoben. Die anderen „zogen um“. Seither befinden sie sich auf einer Odyssee quer durch Paris: Unter anderem schlüpften sie in einem Gewerkschaftslokal, einem Theater und einem Eisenbahndepot unter, bevor sie im Juni wieder in eine Kirche flüchteten.

Bei der Auswahl von Saint-Bernard ließen die BesetzerInnen mehr Vorsicht walten als beim ersten Mal. Sie zogen in den Einwandererstadtteil Goutte d'Or, der im vergangenen Jahrhundert rund um die neuen Eisenbahnanlagen des Nordbahnhofs entstand. Wo einst vor allem polnische Arbeiter wohnten, sind heute die meisten BewohnerInnen Muslime aus Nordafrika. Die BesetzerInnen halten das für einen guten Schutz. Obwohl die Front National in diesem Stadtteil bei den letzten Wahlen 17 Prozent der Stimmen bekommen hat, glauben sie, daß Rechtsextremisten sich nicht trauen würden, sie hier zu überfallen. In der katholischen Kirche Saint-Bernard überwiegen bei der Sonntagsmesse farbige Gesichter. Die Priester zeigen Verständnis für die „Papierlosen“. Gläubigen, die sich über die dreihundert Muslime in ihrer Kirche beschweren, sagen sie: „Irgendwie muß das Problem gelöst werden.“

„Das Problem“ sind rund 250.000 Menschen in ganz Frankreich – die genaue Zahl kennt niemand. Spätestens seit Beginn dieses Sommers ist klar, daß ihre Situation nach einer Klärung schreit. Fast alle „Papierlosen“ kommen aus einstigen französischen Kolonien. Viele von ihnen waren schon in den 80er Jahren in Frankreich. Und kaum jemand hat das Gefühl, etwas Unrechtmäßiges zu tun.

Die seit Anfang der 90er Jahre in Kraft getretenen, nach dem ehemaligen Innenminister benannten Pasqua-Gesetze haben ein heilloses Durcheinander in die Situation von Einwanderern in Frankreich gebracht. Längst nicht alle Rechtskundigen – und schon gar nicht die zu einem großen Teil nicht des Französischen und des Schreibens und Lesen mächtigen Einwanderer – verstehen die komplizierten neuen Bestimmungen. Als Ergebnis der ursprünglich zur „Eindämmung der illegalen Immigration“ gedachten Gesetze fanden sich Menschen, die legal im Land lebten, plötzlich in der Illegalität wieder – nach einer verpatzten Prüfung, nach einem „zu langen“ Heimataufenthalt, nach nicht eingehaltenen Behördenfristen. In Frankreich geborene Kinder bekamen nicht mehr die Staatsangehörigkeit, Eheschließungen und Familienzusammenführungen wurden erschwert.

Für zahlreiche „Papierlose“ in Frankreich war die erste Pariser Kirchenbesetzung im März ein befreiendes Startsignal. In insgesamt vierzehn Städten laufen seither Besetzungen und Hungerstreiks, die alle dasselbe Ziel haben: Aufenthaltsgenehmigungen. Gemeinsam ist den AktivistInnen im ganzen Land ihre Entschlossenheit. Was sie unterscheidet, ist die Reaktion der jeweiligen Polizeipräfekten: Mal erhält eine Gruppe von hungerstreikenden „Eltern französischer Kinder“ Aufenthaltsgenehmigungen für alle Beteiligten, mal gibt es Abschiebung.

Madjiguene Cissé war von Anfang an bei der Protestbewegung in Paris dabei. Schnell haben die BesetzerInnen sie zu einer der Delegierten gewählt, die zusammen mit anderen BesetzerInnen die „Außenkontakte“ organisieren. Madjiguene Cissé verhandelt mit den Gewerkschaftern, die stellvertretend für die „Papierlosen“ Demonstrationen anmelden, sie hält den Kontakt zu den Prominenten im „Vermittlerkomitee“, das seit fünf Monaten vergeblich versucht, die französische Regierung zu Zugeständnissen zu bewegen, und sie spricht mit Journalisten.

Die Malierin: „Wir sind hier, wir machen weiter“

In den Stunden nach der Räumung der zehn Hungerstreikenden gibt Madjiguene ein Interview nach dem anderen. „Natürlich machen wir weiter“, wiederholt sie lachend in die Mikrophone. Im Hintergrund flattern die roten Fähnchen mit der Aufschrift: „Papierlose im Kampf“, die die BesetzerInnen an das schwarze Gitter rund um Saint- Bernard gebunden haben.

Die Senegalesin Madjiguene Cissé spricht fließend Französisch, Deutsch und drei afrikanische Sprachen. Sie hat studiert – Germanistik in Dakar und Saarbrücken. Und sie ist mit ihren 44 Jahren eine Generation älter als die meisten anderen Kirchenbesetzer. Doch der Bildungs- und der Altersunterschied ändern nichts daran, daß auch Madjiguene Cissé „keine Wahl“ hatte. Vor zwei Jahren kam sie nach Frankreich, damit ihre älteste Tochter das Abitur machen kann. „In Dakar werden die Schulen sechs von neun Monaten bestreikt“, erklärt die Mutter, früher selbst Lehrerin. In Paris hat nun die Tochter eine Aufenthaltsgenehmigung, die Mutter hat angesichts der rechtlichen Lage erst gar keine Anträge gestellt.

Bis zum Beginn des Kampfs der „Papierlosen“ arbeitete Madjiguene Cissé im Telemarketing. Jetzt konzentriert sie sich ganz auf ihre neue Tätigkeit. Sie sorgt für neue Toiletten hinter der Kirche, organisiert Megaphone und spricht über die Weltwirtschaftsordnung. Der Ölschock, die europäische Grenzschließung, die Weltbank und die Strukturanpassung seien verantwortlich dafür, daß ganze Generationen von MalierInnen, SenegalesInnen und MauretanierInnen auswandern, erklärt sie. Wenn sie das bei Vollversammlungen der BesetzerInnen tut, müssen ihre Beiträge manchmal in bis zu vier afrikanische Sprachen übersetzt werden, damit alle sie verstehen. Aber die Botschaft kommt an. „Wir müssen den Franzosen erklären, daß sie ihre Gesetze ändern müssen“, sagt eine junge Malierin, „deswegen sind wir hier, und deswegen machen wir weiter.“

Das Wort „Angst“ fällt in der Kirche Saint-Bernard nicht. In die Heimlichkeit und das Verstecken zurück will fünf Monate nach Beginn des Kampfs niemand. Die jungen Männer spüren, daß sie über ihre Zukunft entscheiden. Die meisten jungen Frauen glauben, daß sie „keine Wahl“ haben.

Der beinahe täglichen Aufforderung von Frankreichs Innenminister Jean-Louis Debré, die Koffer zu packen und nach Hause zu fahren, wird in Saint-Bernard niemand nachkommen. Schlimmstenfalls wollen sich die „Papierlosen“ abschieben lassen. „Die meisten sind ein paar Monate später wieder in Frankreich“, versichert Madjiguene Cissé und wirft ihren Kopf laut lachend in den Nacken.

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