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Nervöses Leben im Tausend-Viertel-Takt

■ Der legendäre Saxophonist James Chance verprügelt den zeitgenössischen Jazz

Für einen Fake-Jazzer war James White, der bald James Chance hieß, immer zu durchgedreht, für einen Noise-Musiker aber viel zu cool. Als er in der blauen Stunde zwischen Punk und New Wave auf die New Yorker Bühnen trat, war man allgemein begeistert von der Energie und Originalität dieses weißen Saxophonisten und Sängers, wußte ihn aber auch nicht so recht zu verstauen.

Denn White/Chance, dessen Band erst The Contortions und später The Blacks hieß, zerlegte im Rausch von 20 Kannen Kaffee und etwas Koks Motown-Hits in Rimbaudsche Predigten. Er schuf eine Vokabelsammlung des Punk für Jazz und Funk und sang dabei so falsch, daß selbst Richard Hell, sein Geistesverwandter im New Yorker Punk, dagegen wie eine Maria Carey in Springerstiefeln klang.

Die zügellose poetische Empörung, die Chance mit seinem Schreigesang ebenso in wohltuend nervöse Energie umsetzte wie mit seinem eigenmelodiös quickenden Saxophon, ließen Anfang der 80er auf einen baldigen Tod schließen. Denn Chance verausgabte sich auf der Bühne wie Iggy Pop und komprimierte sein Inneres mit Kunst und Drogen auf solche Amplituden, daß es jeden Schulmediziner zu einem Lexikon verzweifelt-guter Ratschläge animiert hätte. James Chances „Heatwave“ schien dem Verglühen nahe.

Doch das schmale Hemd mit dem Gesicht des wohlerzogenen Pubertierenden, erfaßt bei der Überlegung, mal etwas Böses zu tun, verschwand nur für einige Jahre aus dem Gesichtskreis der Musiköffentlichkeit, um jetzt mit einer neuen Platte den „angry young man“ noch gekonnter für unsterblich zu erklären. P-Funk auf hohen und niedrigen Umdrehungen, Free Jazz vor den Fassaden von Eric Dolphy und Ornette Coleman, Rhythm'n'Blues, Swing und Las-Vegas-Geklecker – auf Molotow Cocktail Lounge räubert Chance erneut die Werkstatt cooler Musikstile, um damit seine eigenen Engel aufsteigen zu lassen.

Dieselbe Nervosität, Hektik und überspringende Liebe zu Frauen, harten Getränken und Leben im Tausend-Viertel-Takt wie vor zehn Jahren machen dieses Überraschungswerk eines verschollen geglaubten zu einem jener seltenen Glücksfälle, wo Pause zu Reife und nicht zu Alzheimer führt. Sein Alt-Saxophon kann ernst, aggressiv oder lustig agieren. Seine Gesangskonstruktionen bleiben die wunderbaren Reportagen aus einer ungestümen Seele und die Contortions operieren mit annähernd derselben Energie, so als seien sie nur mal kurz in den Tour-Bus gestiegen, um eine Nase zu ziehen.

Wenn der zeitgenössische Jazz eine Tracht Prügel verdient hat, dann diese.

Till Briegleb

So, 18. August, 21 Uhr, Marx

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