Kurt Scheels Lichtspiele: Bekenntnisse eines Videobauern
■ Er lebt gut, aber nicht, wie der archaische Filmjäger, im Einklang mit der Natur!
Öfter als ein-, zweimal pro Monat gehe ich in den letzten Jahren kaum ins Kino. Der notwendige Filmstoff wird übers Fernsehen geliefert; neuerdings, um nicht ganz von den TV-Dealern abhängig zu sein, habe ich mir ein Videogerät zugelegt. Im Leben eines Filmeguckers ist das ein Einschnitt, der dem welthistorischen Übergang von der Jäger- und Sammlerexistenz zur Epoche der bäuerlichen Vorratswirtschaft entspricht; praktisch der Beginn der Kultur.
Das Filmjägerleben ist anstrengend, unsicher, abenteuerlich: Wie oft durchstöbert man das Dickicht der Kino- und Fernsehprogramme, ohne fündig zu werden! Aber dann, ganz unverhofft, wird auf Bayern III oder in einem dieser niedlichen Gilde-Kinos „A Midnight“ mit Claudette Colbert und Don Ameche gezeigt. Welch Glücksgefühl durchströmt das Herz, solch rares Wild zu sehen!
Das Leben des Videobauern ist sicher, geordnet, auch ein bißchen langweilig. Aber im Unterschied zum Jäger, der der Natur und den Göttern ausgeliefert ist, muß er nie hungrig ins Bett, denn ihm stehen die häusliche Vorratskammer oder die der nächsten Videothek offen. Das ist zweifellos ein Fortschritt, aber er verlangt seinen Preis: Der Videobauer ist ein Kind der Moderne, er glaubt nicht mehr an Götter, selbstermächtigt stillt er sein Verlangen, zahlt für sein Vergnügen. Er lebt gut, aber nicht wie der archaische Filmjäger im Einklang mit der Natur, im Stand der Gnade...
Tempi passati! Wie welthistorisch dem Jäger der Bauer folgte, dem Umherstreifenden der Seßhafte, der Anwalt dem Cowboy (wie in „Liberty Valance“ – die Bemächtigung der Natur durch die Zivilisation ist das große Thema des Western), so bin auch ich vom Filmjäger zum Videobauern geworden.
Apropos Western. Letztes Wochenende habe ich zum ersten Mal „The Big Trail“ von Raoul Walsh gesehen, eine sehr teure, ambitionierte Produktion aus dem Jahre 1930, die aus vielerlei Gründen ein totaler Flop wurde. Einer der Gründe ist John Wayne in seiner ersten Hauptrolle, aber er kann's noch nicht, weiß nicht, wohin mit den Händen, lächelt immerzu und hat auch noch viel zu viel Dialog – aber er ist zuckermäßig hübsch, ein richtiger Beau, daß man sehr aufpassen muß, sich nicht in diesen androgynen Jüngling zu vergaffen...
Apropos Jüngling. Der zweite Film meines Videoexzeß-Wochenendes war „American Graffiti“, George Lucas' Adoleszenzbeobachtung von 1973. Ich erinnere mich gut, als ich ihn damals sah: diese Musik – von „Get a job“ (The Silhouettes) und „Runaway“ (Del Shannon) über „The stroll“ (The Diamonds) und „You're sixteen“ (Johnny Burnette) bis „At the hop“ (Flash Cadillac and The Continental Kids) und „Ya Ya“ (Lee Dorsey); diese Autos; das nächtliche Cruising in der kalifornischen Kleinstadt; das Geschlechtergebalze; Wolfman Jack; und – aber das ist ein wenig peinlich und muß deshalb unter uns bleiben – der Held des Films, Richard Dreyfuss, heißt ausgerechnet „Curt“ und wird auch noch, so erfahren wir im Abspann, Schriftsteller. Daß ich, damals selbst ein Jüngling, solchen Identifizierungsangeboten nicht widerstehen konnte, wird jeder einsehen.
Aber auch jetzt war ich wieder sehr angetan, berührt (nicht geschüttelt), betroffen gar, und nicht nur weil ich, inzwischen ein reifer Mann, leicht umflort meiner eigenen Jugend zusah – dazu bin ich ein viel zu selbstreflexiver, ja selbstkritischer Mensch. Lucas hat ein wirkliches Meisterwerk geschaffen, den Prototyp des modernen Adoleszentenfilms, der oft kopiert, aber, versteht sich, nie erreicht wurde.
Außerdem – Cineasten, aufgepaßt! – ist „American Graffiti“ eine wunderbare Synthese aus amerikanischem und europäischem Kino: ein Stimmungsbild fast ohne Plot, die Geschichte einer Nacht, elegisch wie Chantal Akermans „Toute une nuit“, aber glücklicherweise, typisch Amis!, auch zum Lachen, der Übergang vom Jugend- ins Erwachsenenleben, rites de passage, und all das Zeug, Sie wissen schon...
Das war ein guter Auftakt für mein Videoexzeß-Wochenende; danach wurden dann noch „Fantasia“ von Walt Disney und der erste Teil des „Paten“ weggeguckt, und getröstet ging der Videobauer bei Tagesanbruch ins Bett: „Quelle nuit!“ Kurt Scheel
Der Autor ist Mitherausgeber der Monatszeitschrift „Merkur“
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