■ Die deutschen Ärzte klagen über finanzielle Wehwehchen: Immer weniger Gewinn bei immer mehr Arbeit. Im nächsten Jahr wird alles noch schlimmer, fürchten sie - und machen sich auf die Suche nach neuen Dienstleistungen für ihre Kunden.
: Schi

Die deutschen Ärzte klagen über finanzielle Wehwehchen: Immer weniger Gewinn bei immer mehr Arbeit. Im nächsten

Jahr wird alles noch schlimmer, fürchten sie – und machen sich auf die Suche nach neuen Dienstleistungen für ihre Kunden.

Schicksalsschlag für Doktor Stephan

„Sozialismus pur“ – diesen Vorwurf müssen sich Krankenkassen und Funktionäre der KassenärztInnen zur Zeit häufig anhören. Denn nach ihrer fürs nächste Jahr geplanten Abrechnungsreform sollen MedizinerInnen mit eigener Kassenpraxis nur noch etwa 150.000 Mark im Jahr erwirtschaften können. Erstmals soll eine Reform einen Höchstbetrag festlegen, den ÄrztInnen pro Patient und Quartal abrechnen können – egal, wie aufwendig eine Behandlung ist. Jedem Patienten Blut abzuzapfen und ihn immer wieder zur Nachuntersuchung zu bestellen lohnt sich dann nicht mehr.

Die Einkommen der verschiedenen Ärztegruppen werden sich dadurch annähern. „Bisher galt: Je patientenferner und technischer, desto höher der Verdienst“, beschreibt Harald Abholz, Allgemeinmediziner aus Berlin, das System. Etwa 300.000 Mark im Jahr verdienten Radiologen und Orthopäden nach Abzug ihrer Praxiskosten 1993. HausärztInnen mußten sich durchschnittlich mit der Hälfte begnügen – und viele auch mit deutlich weniger. Bis zum politisch erzwungenen Zulassungsstopp 1995 kam es deshalb zu einem Boom von Facharztpraxen.

Krankenkassen und Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) verhandeln zur Zeit, wie hoch der Pauschalbetrag pro Krankenschein ab 1997 sein soll. „Ein Allgemeinmediziner wird wohl etwa 80 bis 85 Mark erhalten“, meint der Arzt Harald Abholz, der die laufenden Verhandlungen für die Betriebskrankenkassen beobachtet. Für diese Summe behandelt ein Arzt dann sowohl die Frau, die mit einem Schnupfen ein einziges Mal bei ihm auftaucht, als auch den Mann, der aufgrund seiner chronischen Beschwerden alle paar Tage in seinem Wartezimmer sitzt. Die Pauschale soll nach Facharztgruppen differenziert und aus einem bundesweiten Mittelwert errechnet werden. „Noch sammelt ein unabhängiges Institut Daten, und es sind noch mehrere Modelle im Gespräch“, berichtet eine KBV-Vertreterin.

„Hier in München werden reihenweise Praxen eingehen“, prognostiziert Hubert Langehenke schon jetzt. Er betreibt seit zehn Jahren eine Hautarztpraxis in Ottobrunn nahe der bayrischen Hauptstadt. Alle Dermatologen der Republik nach gleichem Maßstab zu bewerten sei unrealistisch und ungerecht, meint Langehenke. Nicht nur Miet- und Personalkosten seien in Großstädten höher, die City-Praxen seien auch aufwendiger ausgestattet.

Harald Abholz hingegen sieht die Reform überwiegend positiv: „In Deutschland haben die Ärzte aufgrund des Abrechnungssystems vier- bis fünfmal soviel gemacht wie in anderen westeuropäischen Ländern.“ Nicht der Heilerfolg, sondern eine möglichst große Zahl von Blutuntersuchungen, Spritzen und hochtechnischen Analysen hätten jahrelang ihre Kassen gefüllt.

Ausgangspunkt der bevorstehenden Reform, die manche gar als Revolution bezeichen, ist das Scheitern des Abrechnungssystems, das seit Anfang dieses Jahres gilt. Schon zum 1. Januar 1996 wurden Pauschalen für die Behandlung vieler Krankheiten eingeführt. Zugleich beschlossen Krankenkassen und Kassenärztevertreter, das ärztliche Gespräch höher zu bewerten als vorher. Doch im Mai dieses Jahres schlugen die KBV-VertreterInnen Alarm: Plötzlich hatten FachärztInnen angeblich dreißig bis vierzig Prozent mehr Zeit damit verbracht, mit ihren PatientInnen zu reden.

„Das ist mit Sicherheit zum Großteil Beschiß“, meint Winfried Beck, Vorsitzender des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Er hat ausgerechnet, daß einige Urologen behauptet haben, fast vier Stunden am Tag allein damit verbracht zu haben, mit ihren PatientInnen zu sprechen. Auch weiß er von Orthopädenkartellen in Berlin und Nordrhein-Westfalen, die sich permanet gegenseitig die PatientInnen zuweisen, um ihre Einnahmen in die Höhe zu treiben.

Weil aber das Gesamthonorar der gesamten Ärzteschaft Anfang des Jahres erstmals begrenzt wurde – es darf seitdem nicht stärker steigen als der Durchschnittsverdienst anderer Berufsgruppen –, ist der Gewinn eines Arztes jetzt der Verlust der anderen. Die enorme Steigerung angeblich oder tatsächlich erbrachter Leistungen führte also nur dazu, daß die Ärzte für eine Arbeitseinheit von den Krankenkassen plötzlich fast nur noch die Hälfte bekamen. „Vor allem die Anständigen, die nur das abrechnen, was sie auch getan haben, sind dadurch in ihrer Existenz bedroht“, beschreibt Winfried Beck die Lage.

Die Reform Anfang 1997 soll diesen Effekt beenden. Wenn ein Arzt nur noch für die Zahl der Patienten bezahlt wird, entfällt der Reiz, möglichst viele Untersuchungen und Therapien durchzuführen. Doch daneben droht eine große Gefahr: Immer mehr ÄrztInnen werden bestimmte Leistungen privat abzukassieren versuchen und so das Versicherungssystem aushöhlen. Diese Tendenz beobachtet Winfried Beck schon jetzt: Einige Berliner Orthopäden hätten in ihren Wartezimmern gesetzeswidig Schilder aufgehängt, daß Spritzen künftig nicht mehr ohne Zuzahlung zu haben seien. Dabei sind, wie auch das Gesundheitsministerium bestätigt, Injektionen in den Behandlungspauschalen enthalten. Annette Jensen