: Die Beatniks vom Bosporus
Ende der siebziger Jahre packten türkische Jugendliche in den Großstädten freiwillig ihre Rockalben in den Keller, heute sind ihre Kinder von MTV geprägt ■ Von Dilek Zaptçioglu
Ein möblierter Musikschrank zierte unser Wohnzimmer, die gestapelten 45er-Platten fielen nacheinander auf die Scheibe, am liebsten hörten wir die Beatles, und das Leben ging nicht nur weiter, sondern es war zudem aufregend. Das waren die Istanbuler Radio Days, Ende der sechziger Jahre, als wir noch zu jung waren, um etwas von den gerade stattfindenden Studentenprotesten gegen den Besuch der amerikanischen Mittelmeerflotte mitzubekommen, und schon zu alt, um mit Puppen zu spielen. In großen barocken Kinosälen, umhüllt vom Staub der Italo-Western, lernten wir Clint Eastwood und die Musik Morricones lieben. Das Festival in San Remo, und was sonst noch in „Europa“ an Musik- und Filmereignissen los war, kam jede Woche in braungetünchten Zeitschriften ins Haus, wir kannten alle auswendig.
In Schulen schossen Amateurbands wie Pilze aus dem Boden, und als Anfang der siebziger Jahre die Band unserer Deutschen Schule Istanbul mit dem englischen Song „John Henry“ den alljährlichen Musikwettbewerb gewann, waren wir mächtig stolz. Die ersten richtigen Rockbands wurden gegründet, sie sangen meist die englischen Songs nach, machten das aber gut; sie traten in verrauchten Kellern auf, wo Schlaghosen und geschnürte Lackstiefel ein Muß waren, während die Mütter zu Hause auf dem leergeräumten Eßtisch die neuen Burda-Schnittmuster ausbreiteten und uns brave Röcke nähten.
A star is born
Und dann kam sie: Ajda Pekkan. Der absolute Superstar der türkischen Popmusik, der sie dank unzähliger Gesichtsoperationen heute noch geblieben ist, wurde über Nacht populär. Ihre Lieder, anfangs einfach auf fremde Songs geschriebene türkische Songtexte, handelten von Liebe, Trennung, Betrug und Schmerz. Was gab es sonst für Themen in einem Land, wo jugendliche Liebe nur platonischer Natur sein konnte und als solche begehrenswerter war als alles andere der Welt? Ajda machte eine wunderbare Figur, sah sehr modern und selbstbewußt aus und hatte nichts mit der schüchternen, etwas altbackenen Schönheit zu tun, die in der türkischen populären Kultur auf Bühne und Leinwand dominierte.
Ajda und all die Mädchen, die sie zum Vorbild nahmen und in den Großstädten mit Jungs händchenhaltend spazierengingen, verkörperten die ersten „Erfolge“ der staatlich vorangetriebenen Verwestlichung der Türkei. Auf der Spitze dieser Pyramide standen die bürgerlichen Eltern und ihre Kinder. Der breite städtische Mittelstand zog nach. Und unten war das „Volk“. Ausgeschlossen von Bildung und „Modernisierung“, bevölkerte es damals die Dörfer Anatoliens – oder saß schon am Fließband in Rüsselsheim.
Mit dem Fernsehen Anfang der siebziger Jahre brach eine neue Ära an. Die türkische Popmusik entwickelte sich rasch mit eigenem Sound, der vor allem unter italienischem und französischem Einfluß stand. Ganze Konzertmitschnitte von Milva oder Enrico Macias füllten die Fernsehabende. Mitte der siebziger Jahre wurde eine junge Sängerin mit einem miserablen Lied zum ersten Mal nach „Europa“ zum Eurovision Song Contest geschickt, wo sie von hinten auf Platz eins kam. Die Szene gewann neue Gesichter, und angelsächsischer Pop holte auf. David- Cassidy-Starschnitte hingen nun auch in Istanbuler Jungmädchenzimmern, „I can't get no satisfaction“ war wörtlich zu nehmen, und aus der ersten Diskothek in Ankara – sie hieß „Apple“ – dröhnte „Shine on me crazy diamond“.
Die zweite Hälfte der Siebziger lenkte die städtische Jugend und ihre Musikkultur in völlig neue Bahnen: Gegen den IWF und Imperialismus solidarisierte man sich mit den Zukurzgekommenen. Die Städte waren mittlerweile von Slumvierteln belagert, wo die Revolution keimte.
Es galt, Stellung zu beziehen. Unsere neue Musik reichte von Brechtliedern über Inti Illimani bis hin zu anatolischem Volksliedgut.
Mit Brecht gegen die Imperialisten
„Arabesk“ mit Orhan Gencebay feierte ihren Höhepunkt. Die Zuwanderer suchten eine neue Identität, fragten nach Ursachen ihrer Unterdrückung, klagten lauthals die Ungerechtigkeit an. Und wir fühlten uns verantwortlich und imstande, alles zu verändern. Ende der siebziger Jahre packten wir all unsere Jethro Tulls, Genesis und Pink Floyd in den Keller – sie paßten nicht zur Revolution.
Nachdem die aber ausblieb und unsere geliebten Radios eines Morgens mit Marschmusik den Militärputsch bekanntgaben, alle gefährlichen Bücher und Platten freiwillig begraben und verbrannt wurden, kehrte das Land wieder zur „Normalität“ zurück. Während unsere Generation, sofern sie nicht schon getötet oder verurteilt worden war, sich völlig besiegt zurückzog, wuchs eine neue heran. Mit der Wahl Turgut Özals zum Premier begann auch der Paradigmenwechsel in der türkischen Gesellschaft, ohne den der heutige Boom der türkischsprachigen Popmusik nicht zu verstehen ist.
Die MTV-Revolution
Die achtziger Jahre brachten auch in der Türkei die Wende: Genügsamkeit, soziales Engagement, Ehrlichkeit und Solidarität als Werte wurden verpönt. Geld verdienen hieß jetzt die neue Devise, und es war mittlerweile ziemlich egal, wie man das machte. Weil die Mittelschicht langsam verschwand, gab es nun hauptsächlich zwei Gruppen: eine machtvolle Elite, die so reich wurde wie noch nie zuvor, und die breite Masse, die ihr neidvoll zuschaute. Ausländische Markenware eroberte die Großstadtmeilen, Versace und Pierre Cardin hielten Einzug in die Nobelviertel. Mode- und Dekorationszeitschriften, Zeitgeistmagazine und Pophefte überschwemmten den Markt. Nun war alles zu haben: von den neuesten CDs bis hin zu italienischen Designmöbeln – es kostete nur etwas. Und noch eine Markenware kam in die Türkei: MTV.
Die Videoclip-Kultur hat mehr an westlichem Einfluß in das Leben der türkischen Jugendlichen gebracht wie nichts anderes zuvor. Hunderte von Privatradios wurden gegründet, wo es rund um die Uhr Musik zu hören gab, Madonna und Michael Jackson standen für den Erfolg der Außenseiter. Manche DJs legten sich einen amerikanischen Akzent zu und nannten sich fortan „McCoy“ statt Ahmet. Es war schick, Geld zu haben, und Erfolg machte schön, und beides kam aus dem Westen.
Aber nicht viele verstanden auch die Texte. Etwas Türkisches mußte her, etwas, was alle mitsingen konnten. Neue Helden brauchte das Land, und die Kassettenindustrie half dabei. Bald kamen sie: Tarkan und Burak Kut, Celik und Candan Ercetin wurden fast über Nacht zu Lieblingen der neuen Generation. Neoliberale Kolumnenschreiber feierten sie als die Wegbereiter einer großen, starken und selbstbewußten Türkei. Man wollte in die „erste Liga“ aufsteigen, und diese Jugend ebnete den Weg. Sie war unpolitisch, gab sich wertkonservativ, im Zweifel immer für den Staat, und sie wollte nichts anderes als Erfolg. Massenblätter veröffentlichten ernsthaft Artikelserien darüber, daß die neue Generation im Vergleich zu früheren „schöner“ und „europäischer“ geworden ist.
Waren vor 25 Jahren Miniröcke und Schlaghosen nur das Requisit einer Handvoll Großstadtkinder, so sind heute die neuesten Moden fast in jeder Kleinstadt anzutreffen. Die Videoclips bringen rund um die Uhr nicht nur Musik, sondern auch eine ganze Weltanschauung in die Wohnzimmer. Diese Weltsicht ist unpolitisch und westlich-modern: Die Clips werden in Berlin und New York gedreht, sie haben Tempo, strahlen Optimismus aus, zeigen selbstbewußte Mädchen und schöne Jünglinge und sind oft mit erotischen Elementen bestückt – eine kleine Revolution im Lande der platonischen Liebe. Das Erstarken des Islamismus fällt somit in eine Zeit, in der westlich-kapitalistische Lebensmuster bis in das kleinste Dorf vorgedrungen sind.
Neue Idole für die Deutschtürken
Diese Welle ist seit gut drei Jahren auch nach Deutschland und in andere Länder übergeschwappt. In den Diskotheken in Celle und Hannover, Berlin und München tanzt die dritte Generation am liebsten zur Musik von Yildiz Tilbe und Tarkan. Die Pophelden sind auch ihre neuen Vorbilder: Sie konnten sich bisher nicht an der Elterngeneration orientieren und wollten es auch nicht mehr. In Deutschland dominierte die angelsächsische Popkultur, und deren Protagonisten deckten sich nicht völlig mit der Lebenswirklichkeit der türkischen Jugend (HipHop war eine Ausnahme).
Vor allem die Mädchen kannten nur zwei Fronten: Das Elterliche war ihnen zu traditionell, altbacken, unmodern und einengend. Das Europäisch-Westliche war etwas, womit sie sich nicht völlig identifizieren konnten, durften oder was sie ausschloß. Aber ein Tarkan oder eine Yonca Evcimik bieten die Synthese: „Modern“ zu sein, ohne auf seine Sprache, seine Lieder und seine kulturelle Gefühlswelt verzichten zu müssen. Die westliche Moderne hält somit Einzug in die türkischen Wohnstuben in Deutschland, und zwar über den Umweg der Türkei. Nicht wenige der neuen türkischen Popstars kommen aus Deutschland, Holland oder den USA.
Und noch etwas brachte die neue Popwelle: Deutschländerkinder wie Rafet El Roman können nunmehr in der Türkei zu Popstars werden mit einem schlechten Akzent, für den sie früher von Istanbuler Eliten nur ausgelacht worden wären. Erfolg ist eben sexy, und „made in Europe“ sowieso. Wer das Gegenteil behauptet, ist entweder Kommunist oder Fundamentalist.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen