: „Sonst kann ich nicht schlafen“
■ „Kinder, die nicht erzählen“ heißt die Studie eines schwedischen Forscherteams über Opfer und Strafverfolgung
Gustav weiß nicht, warum die Polizei ihn bestellt hat. Als man ihm ein Foto mit seinem Gesicht zeigt, bestreitet er, diese Person zu sein. Etwas später erzählt er dann, wer ihn fotografiert hat. Nackt? Nein, nackt habe ihn niemand fotografiert. Nachdem dem Jungen entsprechende Fotos vorgelegt wurden, notiert der Beamte noch 24 Mal die Antwort: „Nein, das bin ich nicht!“
Gustav ist ein „Fall“ aus einer umfassenden Untersuchungsreihe über das Schicksal mißbrauchter Kinder und deren Verhalten vor schwedischen Polizei- und Justizbehörden. Die Ergebnisse dieser Expertise werden den Teilnehmern des Weltkongresses in Stockholm als Diskussionsgrundlage vorgelegt.
Kinder wollen vergessen. Sich erinnern zu müssen und können macht Angst, ruft die Schmerzen wieder ins Gedächtnis, verursacht Schamgefühle. In vielen Fällen dauert es Wochen, manchmal Monate, bis die Kinder und Jugendlichen dieses Erinnern-Müssen verarbeitet haben. Die Kinder, die der Kinderpsychiater Carl Göran Svedin und die Soziologin Kristina Back befragt und deren Vernehmungsprotokolle sie analysiert haben, waren zwischen drei und vierzehn Jahre alt, als sie sexuell mißbraucht wurden. Sie haben oft jahrelang schwerste sexuelle Übergriffe ertragen müssen, ohne etwas erzählen zu können. Zwischen sieben und achtzehn Jahre alt sind sie, als sie aufgrund beschlagnahmten Filmmaterials identifiziert werden.
„Kinder, die nicht erzählen“ – so auch der Titel der Studie – sind das größte Problem der Strafverfolgungsbehörden. Was zu vielen Freisprüchen geführt hat in Fällen, in denen der mutmaßliche Täter leugnete und die Opfer selbst nichts erzählen wollten. „Unser Ziel war es klarzumachen, welche Hindernisse sich für die Kinder auftun“, sagt Carl Göran Svedin. „Sie fühlen sich ja in die kriminelle Handlung mit hineingezogen, ja sogar mitschuldig, obwohl sie ja selbst die Verletzten sind.“ Nicht nur, daß Kinder sexuellen Übergriffen ausgesetzt sind sei das Schlimme, so die Studie, sondern daß sie dabei auch noch gefilmt worden seien. Und daß ihre gefilmten Handlungen und Gefühle, ob mit oder ohne Prozeß, von einer großen Anzahl von Menschen gesehen würden.
„Die Verhöre mit Gustav müssen mehrfach abgebrochen werden. Irgendwann beginnt er vorsichtig zu erzählen, daß er unter Drohungen zusammen mit einem Freund gezwungen wurde, sexuelle Handlungen auszuführen und daß diese gefilmt wurden. Zunächst berichtet er nur von einem Fall. Erst als ihm klar wird, daß es Fotos gibt, räumt er ein: „Ich glaube, es ist öfters passiert. Aber ich kann darüber nicht reden, sonst kann ich nachts nicht mehr schlafen.“ Reinhard Wolff, Stockholm
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