■ Nebensachen aus Moskau: Die trockengelegte Zehnmillionenstadt
Ot wodej wsegda schdi bedej – Von Wasser erwarte nur Übel. Der tiefere Sinn dieser russischen Volksweisheit blieb mir lange verschlossen. Ab und an dachte ich, ihm auf der Spur zu sein, in der U-Bahn etwa oder in Kaufhäusern und – noch zu Sowjetzeiten – in der Schlange, Orten mit erhöhter Körperdichte. Sinnsuche und strapazierte Sinneswahrnehmung führten mich damals auf eine falsche, weil triviale Fährte: die Abwesenheit von Seife.
Die Wasserwerke in Moskau halten sich strikt an ihren Fahrplan. In den kalendarischen Sommermonaten überprüfen sie rigoros „po planu“ das Rohrsystem, um es winterfest zu machen. Das Klima schreibt das vor. Für den Abnehmer bedeutet es, mindestens vier Wochen auf Wasser zu verzichten, zum Glück meist nur auf heißes, da Kalt- und Warmwasser aus getrennten Kreisläufen tropfen.
Gewöhnlich weist die Hausverwaltung auf die bevorstehende Trockenzeit per Aushang hin. Am 27. Juni teilt sie mit, daß das Hydroamt am 24. Juni den Eingriff vorzunehmen gedenke. Die betroffenen Bürger nehmen diese Informationen dankbar zur Kenntnis. Wissen sie doch nun, daß kein unplanmäßiger Störfall vorliegt.
In diesem Sommer ging alles seinen üblichen Gang. Rußland wählte die Kontinuität, so auch die Wasserwerker. Sogar das Wetter bemühte sich um Beständigkeit. Moskau stöhnte unter einer Hitzeglocke, die wochenlang das Thermometer auf 35 Grad hielt. Je kälter das Wasser, desto besser. Schon gehörten zivilisatorische Details der Erinnerung an, siehe da, eine Flüssigkeit prustete aus dem Hahn wie beim Ölwechsel. „Dali!“ jubilierten die Mieter, „sie haben gegeben.“ Mit diesen Worten quittiert der Russe demutsvoll Akte der Obrigkeit. Tags darauf der Ernstfall – beide Systeme streikten. Die Inspekteure hatten außer der Frist nichts eingehalten. Klingelt anderswo the postman twice ist es in Rußland der Klempner, ein „Spezialist“, der im Gegensatz zum Rohrwerk immer dicht ist.
Nach 24 Stunden öffnete sich im Keller ein Notreservoir. Eimerweise wurde Wasser geschleppt. Selbstverständlich fiel der Fahrstuhl aus. Bis in den zwölften Stock sind es immerhin einige Höhenmeter. Waren es nicht die Griechen in Megara auf Samos, die im 6. Jahrhundert a.D. Wasser in Steighöhen von über hundert Meter förderten? – Dachte ich noch im vierten Stock. Und in Pergamon, waren das nicht 16 atü? Nun ja, die Griechen. Die Russen fliegen lieber auf den Mond.
In angestrengter Sitzhaltung hockten die Arbeiter neben der Pumpstation. Die Erschöpfung stand ihnen im Gesicht. Was tun? Es dauerte einige Tage.
A propos Wasser lassen, der Spülkasten war selbstverständlich auch furztrocken, die chemischen Reaktionen bei über 30 Grad Celsius beschleunigten die Gasentwicklung, Dämpfe krochen schon durch die Korridore. Nun hätte man natürlich eine öffentliche Bedürfnisanstalt aufsuchen können. Im Prinzip – hätte Radio Eriwan empfohlen. Moskau ist eine Zehnmillionenstadt und verfügt innerhalb ihrer Mauern über 276 öffentliche Toiletten. 68 davon sind eintrittspflichtig, das heißt, man watet nicht knöcheltief in Scheiße. Vierzig wiederum werden gerade renoviert. Eine Überprüfung ergab, daß sie nach Instandsetzung nicht unbedingt wieder ihrer vorherigen Bestimmung zugeführt wurden. So wurde aus einer Damentoilette ein Geschäft für Autobedarf, in der Männersektion eröffnete man einen Imbiß. An anderem Ort gar ein Café, während bei den Damen mit Dessous gehandelt wurde. Das Gesundheitsamt nahm noch eine Überprüfung zum Anlaß, um einige weitere Bedürfnishäuser zu schließen. Fazit: Die Russen genießen Freiheit, wissen heute indes noch weniger, wohin mit der Notdurft. (Exakt 17 Prozent weniger als zu Zeiten des Kommunismus.) Spurensuche. Von Wasser erwarte nur Übel. Klaus-Helge Donath
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