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Kurze Reise in die Gegenwart

Vor dem Krieg bin ich aus Sarajevo geflohen. Vier Jahre später kehre ich zurück und überquere zu viele Grenzen für diesen kurzen Weg  ■ Text und Fotos von Nihad Nino Pusija

Zagreb, Flughafen Pleso. Ich bin auf dem 11. Platz der Liste, stand by nach Sarajevo. Als ich vor vier Jahren Sarajevo verlies, war ich auf Platz 18. Ich gab mich als ausländischer Fotograf aus, um mit der Maschine von VW aus Sarajevo zu fliehen, mit VW-Ingenieuren, ausländischen Journalisten und serbischen Zivilisten — nach Belgrad. Es hat geklappt, obwohl ich einen muslimischen Namen habe.

Heute bin ich wieder Fotojournalist. Mit der Pressekarte der Ifor- Truppen kann ich mich überall frei bewegen. Auch nach der Polizeistunde. Das Flugzeug heute ist wesentlich kleiner als das vor vier Jahren. Regen. Wir fliegen. Ein Amerikaner will mir erklären, wie ich mich in meiner Stadt verhalten soll. Ich höre ihm zu. Wir landen. Absolute Stille. Vor vier Jahren war Kanonendonner. Ich küsse die Erde und flüchte mich vor dem Regen in einen ausgebrannten Container. Heimat hat viele Formen.

Ich halte einen Daumen raus und stoppe einen Jeep. Eine Deutsche und eine Österreicherin, beide arbeiten für das UNHCR. Eine ist schon seit zwei Jahren in der Stadt, die andere zum ersten Mal. Wieder bekomme ich eine Erklärung über meine Stadt. Sie halten mich für einen Italiener.

Fahrt durch die Bilder, die der Krieg hinterlassen hat. Alles ist kaputt, was ein Mensch kaputtmachen kann. Wo aber sind die Menschen, die hier gelebt haben? Tot? Geflohen oder vertrieben? Ich begreife in diesem Moment, daß eine Stadt nicht nur aus Häusern, Parks, Brücken und Straßenbahnen besteht. Eine Stadt sind Menschen. Werde ich meine Freunde noch antreffen? Sind sie geblieben?

Der Jeep hält vor dem Haus meiner Eltern. Ich stehe direkt vor dem Hauseingang. Meine Straße heißt nicht mehr Maxim Gorki. Sie heißt jetzt Hamza Humo, nach einem bosnischen Schriftsteller. Ich klingle. Meine Eltern wissen nicht, daß ich schon da bin. Mutter öffnet. Ihre Augen werden groß. Sie küßt mich und fängt sofort zu weinen an. Ich habe sie ein Jahr lang nicht gesehen. Plötzlich steht mein Vater da. Ihn habe ich seit Anfang des Krieges nicht mehr gesehen. Vier Jahre. Umarmung. Meine Eltern sehen sehr viel älter aus. Beide haben Zähne verloren und graue Haare bekommen. Nur das Wohnzimmer sieht gleich aus.

Nachmittags bei Enver und Kija Burić. Ein paar Leute sind da, um die Trümmer wegzuräumen. Alle haben eine gute Figur. Ich esse Kirschen aus dem Garten, direkt vom Baum. Es wird eine gute Ernte geben, dieses Jahr in Bosnien. Die Burićs hoffen, zum Herbst in ihr Haus zurück zu können. Die Hoffnung wächst mit der Zeit.

Iieh, iieh, uuh, uuh, schschsch. Der verrückte Hamo. Oberkörper nackt. Pokal in der Hand, Zitrone im Mund. „Gegen das Austrocknen.“ Wenn es kommt, kann er nur rennen. Er ist im Krieg immer gerannt. Sommer wie Winter. Granaten fallen, Heckenschützen schießen, und Hamo rennt. Es freut mich, ihn zu sehen.

Ich habe keine Eltern, sagt der zehnjährige Kale. Ich hatte noch nie welche. Im Garten des Kinderheimes Ljubica Ivezic. Die Kinder haben von der Feuerwehr Gasmasken zum Spielen bekommen. Oza, Crni, Kuje, Coro, Hase, Sibe. Sie wollen unbedingt mit den Gasmasken fotografiert werden. Kale ist cool. Ich habe ihn extra allein fotografiert, mit Gasmaske. Wir haben das Foto „Trauriger Kale“ genannt.

Es gibt Touristen in der Stadt, Katastrophentouristen. Aber ohne ihre Kinder. Dabei könnten sie so viel von den unsrigen lernen. Wie holt man einen Ball aus einer verminten Parkanlage oder einem Schulgarten? Es gibt Stadtteile, da geht das nicht, da spielen die Kinder nur auf dem Asphalt.

Die Zeit verfliegt. Schon sind drei Wochen vergangen. Ich habe meinen Freund Branko auf einem Konzert getroffen. Er hat Schwierigkeiten, mich zu erkennen, weil ich jetzt Kontaktlinsen trage und keine Brille mehr. Ich hatte auch Schwierigkeiten, ihn wiederzuerkennen. Er hat fast alle Haare verloren. Graphikdesigner. Gleichzeitig ist er Produzent und Manager einer Teenagerpopgruppe. Seven up. Bosnische Take That. Die Jungs sind lustig. Wir verabreden uns für eine Fotosession in der nächsten Woche.

Mein letztes Wochenende. Spontan fahren wir ans Meer. Rüdiger, Cazim, ich und ein UN- Jeep. Kroatien. Adria. Makarska. Das Wasser ist warm. Genauso wie vor fünf Jahren. Der Strand ist leer. Traurig. Rüdiger hat eine Badehose gekauft. Es war eine Fehlinvestition. Es ist sowieso niemand dort. Ich fotografiere ihn. Wir fahren zurück. Niemand kontrolliert und niemand stoppt uns auf dem Weg nach Sarajevo.

Wie zu jugoslawischen Zeiten. Noch zwei Tage. Mutter ist noch trauriger und kann nicht schlafen. Vater gibt mir Empfehlungen, was ich mit meiner Zukunft machen soll. Seven up sind sehr cool. Sie sind jung. Sie sind verrückt. Sie haben eine Perspektive. Und sie sind fotogen. Branko ist mit meinen Aufnahmen zufrieden. Am Ende machen wir noch ein wunderschönes Gruppenfoto.

Fünfzehn Minuten bis zur Abreise. Mein Schädel brummt. Ich bin verkatert. Und unausgeschlafen. In den vergangenen Tagen habe ich nie mehr als vier Stunden geschlafen. Es gibt zuviel zu reden. Und zuviel zu schweigen. Mutter weint. Vater sagt, daß Mutters Nerven unter dem Krieg gelitten haben. Ich erinnere mich, daß sie immer geweint hat, wenn ich wegging. Mütter sind so. Ich entscheide mich, nichts mitzunehmen, was ich vor vier Jahren nicht mitnehmen konnte. Nur ein paar private alte Fotos. Busbahnhof. Alle Leute sind nervös. Aber alles funktioniert gut. Ich winke durch das Fenster. Tränen. Lange Nacht. Zu viele Grenzen für einen so kurzen Weg. Bihać. Nacht. Zagreb. Morgen. Frankfurt. Nacht. Berlin. Nacht.

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