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Gladbacher Lektionen

Beim 3:2-Sieg Mönchengladbachs gegen Arsenal wurden wehmütige Erinnerungen wach  ■ Aus London Mike Ticher

Ging man vor dem Match die engen Reihenhausstraßen rund um Arsenals Highbury-Stadion entlang, hörte man gewaltiges Brüllen vom Publikum drinnen. Nicht tatsächlich vom Publikum, natürlich, sondern von der riesigen Video- Leinwand in der Ecke des Platzes, die Aufzeichnungen ruhmreicher Europacup-Nächte früherer Zeiten zeigte.

Die Leinwand wurde während der Renovierung von Highbury vor drei Jahren errichtet, als die berühmten North-Bank- und Clock- End-Stehtribünen durch Sitzreihen ersetzt wurden. Das Arsenal- Publikum – zugegebenermaßen nie eines der lautesten in England – schien das Match am Dienstag abend vorwiegend nach der Regie der Video-Leinwand und ihres Gegenstücks an der Westtribüne zu begutachten.

Zufrieden damit, vor dem Spiel die Leinwand anzuschauen, brachte die North Bank während der Partie kaum ein Lied oder einen Gesang zustande, der diesen Namen verdiente. Eine traurige Flagge wehte, als die Mannschaften herauskamen. In besonders spannenden Augenblicken wurden die Fans von zwei Händen auf der Anzeigetafel ermuntert, die so höflich klatschten, als gelte es ein Streichquartett anzufeuern und nicht eine Fußballmannschaft.

Bei Halbzeit ertönte in den Kaffee-Bars unter der Tribüne eine Klingel, um die Leute daran zu erinnern, auf ihre Plätze zurückzukehren – wie im Theater. Als Stefan Effenberg nach dreißig Minuten knapp am Tor vorbeischoß, blieb das Arsenal-Publikum stumm, bis die Zeitlupe auf der Leinwand zeigte, daß Torwart David Seaman den Ball mit einer exzellenten Parade um den Pfosten gelenkt hatte. Der Beifall galt der Wiederholung, nicht der Aktion selbst.

Es wurde deutlich, daß die Borussenfans die neuen Regeln der Anfeuerung beim Fußball nach englischer Art noch nicht gelernt haben. Fünfzehn Minuten bevor das Spiel begann, befanden sich ihre Stimmen bereits im Wettstreit mit den Massen aus den 70er Jahren auf der Videoleinwand. Eine bizarre Konkurrenz, nicht nur über die räumliche, sondern auch über die zeitliche Distanz hinweg, welche die beiden trennte. Der virtuelle Fußball ist im Norden Londons wahrhaftig angekommen.

Die Gladbacher sind eine Erinnerung daran, wie das Fußballpublikum in England einst war. So tragen sie lieber Schals als Trikots ihrer Teams. Ein Hemd kann man nur anziehen. Ein Schal, das wußten früher auch englische Fans, bietet eine Menge Möglichkeiten. Er kann hochgehalten, gewirbelt oder geschüttelt werden. Die Borussen wenden alle drei Varianten an. Sie machten außerdem einen beeindruckenden Gebrauch von schwarzen, grünen und weißen Kärtchen, als die Spieler aufliefen. Sie machten „Uuuuuuh“ und wackelten mit den Fingerspitzen, wenn Gladbach einen Eckball hatte.

Schlimmer noch, vom englischen Standpunkt aus gesehen: Sie standen das ganze Spiel durch und benutzten die Sitze bloß in der Halbzeit. Das taten sie teilweise deshalb, weil die Sicht von ihren Plätzen aus miserabel war. Aber auch, weil sie stehen wollten. Etwa in der Mitte der ersten Halbzeit erschien auf der Anzeigetafel eine Nachricht in deutscher Sprache: „Wir bitten die BM-Fans darum, daß sie sich hinsetzen, sonst werden sie in Arrest genommen.“ Dreißig Sekunden später prallte John Hartsons Schuß vom Innenpfosten in die Arme des Torwarts Uwe Kamps. „Goal!“ schlug die Anzeigetafel vor. Beide Nachrichten wurden von der Menge in der gleichen Weise aufgenommen: mit Spott.

Das Bemerkenswerteste, was die Borussenfans tun, ist jedoch ihr Gesang. Sie singen vor dem Match, sie singen, wenn es 0:0 steht, und natürlich, wenn sie führen. Aber auch, als Arsenal durch einen großartigen Schuß von Paul Merson nach 54 Minuten den Anschlußtreffer schaffte, was schließlich das Heimpublikum aufweckte, sangen die Gladbacher immer noch. Ihre Lieder haben natürlich meist englische Melodien und einige sogar englischen Text.

Nach Mersons Tor wurde die Atmosphäre hitziger, bevor Gladbach wieder die Kontrolle übernahm. Zehn Minuten vor Ende war Stefan Paßlack schneller als Arsenals drei Zweimeterrecken in der zentralen Abwehr, erzielte das dritte Mönchengladbacher Tor – und alles erstarb. Mit anderen Worten: Die Arsenal-Fans werden durch das angetrieben, was auf dem Platz passiert. Bei den Gladbachern war es umgekehrt – sie versuchten, ein Teil des Matches zu werden und seinen Ausgang zu beeinflussen. Lange Zeit war diese Art der Unterstützung des eigenen Teams als ausgesprochen „englisch“ betrachtet worden. England hat die Europäer gelehrt, Fans zu sein – nun sind sie besser darin als wir. Nach Paßlacks Tor strömte die Menge zu den Ausgängen. Als Ian Wright kurz vor dem Ende zum 2:3 traf, war die North Bank halb leer. Man hätte die Lautstärke des Tons der Videoleinwand voll aufdrehen müssen, um den Torjubel überzeugend zu gestalten.

Gladbachs Abwehr ist fragwürdig, aber im Spiel nach vorn erinnerte die Mannschaft Arsenal – immer noch das Team mit dem „englischsten“ Stil – eindrucksvoll daran, wie weit England noch in Sachen Technik und Paßspiel hinterherhinkt.

Danach war Gladbachs Trainer Bernd Krauss offenkundig erfreut, trotz des Gegentores in letzer Minute. Seine erste Einschätzung des Spiels: „Tolle Atmosphäre, phantastisches Publikum.“ Ja, Herr Krauss, besten Dank für die Fußball-Lektion und die Lektion Ihrer Fans, wie man eine Fußball-Atmosphäre schafft. Es scheint, wir haben es vergessen.

Borussia Mönchengladbach: Kamps - Paßlack, Fournier, Andersson, Neun - Lupescu, Hochstätter, Schneider - Effenberg, Nielsen (73. Wynhoff) - Juskowiak (85. Kastenmaier)

Zuschauer: 36.894; Tore: 0:1 Juskowiak (37.), 0:2 Effenberg (46.), 1:2 Merson (54.), 1:3 Paßlack (81.), 2:3 Wright (90.)

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