: Träum bei Tempo 30
Nenn es Kuscheltechno oder Dreamhouse: „Children“, eine Melodei des Italieners Robert Miles, war der Sommerhit 96. Jetzt droht der Trend ■ Von Martin Pesch
Irgendwann hatten die Mütter genug. Sie schlossen sich zusammen, um weiteres Unheil von ihrem Nachwuchs fernzuhalten. Aber es ging ihnen weder, wie einst ihren Leidensgenossinnen in Buenos Aires, um die Herausgabe von Informationen über ihre von staatlicher Seite verschleppten und möglicherweise ermordeten Kinder; noch, wie derzeit den Frauen in Moskau, um den Protest über das Verheizen ihrer Söhne im sinnlosen Tschetschenienkrieg. Die italienischen Mamas (den Vätern ist das anscheinend weltweit egal) gründeten ihre „Mama Anti-Rock“-Initiative, weil ihre Kinder nach dem Discobesuch am Wochenende nicht im heimischen Bett, sondern vor den Bäumen und Brückenpfeilern landeten. Totgefahren. Viel zu schnell gewesen, weil noch aufgeputscht von der heißen Musik der italienischen DJs.
Adrenalinfrei durch die Ortschaft gleiten
Die DJs, nicht dumm, machten sich die Sache zu eigen, weil auch sie mittelfristig unter den beängstigenden Unfallzahlen zu leiden hätten. Sie fuhren ihre Sets nicht mehr zum dramatischen Höhepunkt, um dort abzubrechen, und das Adrenalin unbewältigt in den jungen Körpern rasen zu lassen. Sondern sie brachten die Leute durch eine Reihe langsamerer Tracks mit träumerisch-romantischen Melodien zu Sanftmut und Tempo 30 in Ortschaften.
Robert Miles – so nennt sich der 1969 geborene Roberto Concina – hatte seine ganzen bisherigen, hauptsächlich in venezianischen Clubs verdienten DJ-Honorare in ein eigenes Produktionsequipment gesteckt. So war er in der Lage, schnell auf dieses neue Bedürfnis zu reagieren. Er glaubt an die menschenverbessernde und völkerverbindende Kraft der Musik. Denn neben den Berichten über die Opfer unter seinen etwas jüngeren Landsleuten, beeindruckten ihn die Erzählungen seines Vaters, der als hoher italienischer Militär im ehemaligen Jugoslawien stationiert war.
„Children“, dem Track, der ihn berühmt gemacht hat, wohnte also schon bei seiner Entstehung jener universale Impetus inne, der über die Bedeutung für die italienische Unfallstatistik hinausweist. Lokal denken, global handeln. Schnell nahm sich Joe T. Vanelli der Sache an. Der, selbst ein Remixer von Gnaden (u.a. für New Order), brachte den Song auf seinem Label DBX heraus und sorgte durch seine guten Beziehungen zur Londoner Szene dafür, daß „Children“ zu Gehör dort maßgeblicher Leute kam.
Die Platte erschien 1995 in einer Auflage von 3.000 Stück bei der Minifirma Platipus. Miles' Single setzte sich – inzwischen vollkommen losgelöst von der italienischen Entstehungsgeschichte – in den britischen Clubs durch und wurde von DJ-Stars wie Paul Oakenfold gespielt.
Auf diesem Level spitzen die großen Brüder ihre Ohren und die Trendscouts spielen den Managern die Weißmuster der letzten Nacht vor. 1996 wird Miles in England von DeConstruction unter Vertrag genommen, einer Tochter der Bertelsmann Music Group. Fast gleichzeitig hat die Hamburger Firma Motor Music, eine Tochter der Polygram, die Verträge unterschriftsreif. Es spricht für die Cleverness von Miles' Management, sich in unterschiedlichen Ländern an unterschiedliche Majorfirmen zu binden. Das bringt höhere Abschlüsse, als wenn er eine Firma international für sich agieren ließe, wozu BMG und Polygram in der Lage wären.
In Slowmo durch ein Meer von RaverInnen
Was im Frühjahr 1996 passiert, ist schwer zu erklären. Unter musikalischen Gesichtspunkten ist „Children“ ein eher schlichtes Werk. Eine eingängige, auf dem Piano gespielte Melodei, ein bißchen Synthie-Atmo im Hintergrund, ein heranrollender Snare-Wirbel und dann die Erlösung durch einen nicht zu schnellen Housebeat, der die Melodie noch einige Minuten trägt. Das ist die Formel. Eine, die man sich gut merken kann. Eine, die man auch dann nicht vergißt, wenn man das will. Nenn es Ohrwurm, nenn es Dreamhouse.
Von „Children“ hat Miles inzwischen europaweit gut drei Millionen Platten verkauft, davon in Deutschland fast eine Million. Die Nachfolgesingle „Fable“ liegt bei einer knappen Viertelmillion, das Album „Dreamland“ bei 350.000 hierzulande. Unnötig zu erwähnen, daß der alte Roberto in Italien inzwischen Gott ist.
Etwas schwieriger gestaltet sich die Lage in den USA. Dort ist die Firma Arista zwar beeindruckt von den Erfolgen im Abendland, kann die Musik aber weniger leicht an Tendenzen anschließen, die Technomusik für den Mainstream moduliert hat. Eurodance à la 2 Unlimited, Whigfield, Marusha never happened in the USA. Und Sven Väth ist superunknown. Und dann singt ja bei Miles noch nicht mal eine hübsche Tänzerin. Das für Europa unter dem Druck des lawinenartig hereinbrechenden Erfolges schnell produzierte Video mit dem kleinen Mädchen im Londoner Taxi will man in Übersee auf jeden Fall nicht. Miles driftet in der US-Fassung in Slowmo durch ein Meer von RaverInnen. Auf „Fable“, die Platte, die hier ja auch ein paar Groschen einspielt, verzichtet man dort ganz. Dafür mußte Miles einen Extra-Track einspielen („One and One“, erscheint im Oktober auch hier), in dem Vocals im Vordergrund stehen. Das sind so die Sachzwänge, denen man sich zu beugen hat, wenn aus bloßem Geld ein internationaler Kapitalstrom werden soll.
Weiche Klänge für Millionen
Denn längst ist Robert Miles nicht mehr allein. Wie selten in den letzten Jahren hat der Erfolg einer Single die Entstehung eines Genres, eben Dreamhouse, hervorgerufen. Eine Unzahl ähnlich klingender Platten ist in den letzten Wochen erschienen. Motor Music zum Beispiel hat eine ganze Riege von Acts eingekauft, weil, wie der zuständige PR-Mann Thorsten Knig sagt, man damit zur Zeit „ganz gut Kohle verdienen kann“.
Die meist unbekannten Produzenten werden nicht beworben, von ihren billig zu produzierenden Platten werden nur als Trendmitläufer einige tausend Exemplare verkauft. Sie finden aber ihre eigentliche Bestimmung als Beitrag auf den das Genre repräsentierenden Compilations. Mehrere große Plattenfirmen tummeln sich in diesem Sektor, so daß die Chancen nicht schlecht sind, die Lizenzen mehrfach zu verkaufen. Und wenn das nicht klappt, macht man selbst eine, vorwiegend mit den eigenen Acts und ein paar eingekauften großen Namen und verkauft davon 140.000 Stück. Motor Music liegt mit „More Than Miles“ derzeit bei dieser Marke.
„Wir sprechen hier von TV-beworbenen Produkten“, mahnt Tom Bohne und ergänzt: „Da geht es nicht um Credibility, sondern um die Fläche. Das Produkt muß, um erfolgreich zu sein, ein derzeitiges Bedürfnis gezielt befriedigen, darf aber nicht zu speziell sein.“
Bohne ist Product Manager bei Sony und als solcher für die Compilation „Dream Dance“ verantwortlich. „Eine solche Platte“, erzählt er, „wird nach bekannten Namen und ihren bisherigen Chartsplazierungen zusammengestellt.“ Er sieht Dreamhouse in keiner Weise als einen aus Italien kommenden Trend, sondern in der Tradition des seit einigen Jahren virulenten Trance-Techno.
So präsentiert die erste der von ihm zusammengestellten Doppel-CD die aktuellen Hits von Miles, DJ Dado, Zhi-Vago etc. Die zweite dagegen die angeblichen Vorläufer aus den letzten Jahren: Jam & Spoon, Sven Väth, Waterfall. Die Firmen Arcade und Zyx sind mit ähnlichen Compilations im Rennen. Man schiebt sich dabei die Lizenzen für die jeweils eigenen Acts gegenseitig zu, spart Produktionskosten und kann viel Geld in die Promotion stecken. Wer je eine dieser aus Rundfunk und Fernsehen bekannten CDs in der Hand hatte, weiß, daß sein/ihr KonsumentInnenurteil gefragt ist. Mittels eingelegter Fragebögen eruieren die firmeneigenen MarktforscherInnen den Erfolg der eigenen Werbeanstrengung und bereiten über Fragen nach aktuellen musikalischen Vorlieben schon den Erfolg des Nachfolgers vor. Hier wird Feedback ohne unvorhergesehene Nebengeräusche produziert.
Big in Fagagna, Zürich, Hannover
Robert Miles hätte sich das nicht träumen lassen. Inzwischen bleibt ihm dazu auch keine Zeit mehr. Seine Wochenenden sehen jetzt so aus: Samstag abend während der Zürcher Street Parade auflegen (dem Schweizer Pendant zur Love Parade), dann nach Frankfurt am Main gefahren werden, wo Sonntag morgen zwischen sechs und acht die Plattenteller warten, und dann nach Hannover weiterreisen, um denselben Job noch einmal zu verrichten. Jeder will ihn derzeit auf dem Ticket haben.
So verdient er zwar in 36 Stunden mehr als ich mit 250 taz-Artikeln dieser Länge (ohne Sozialneid grob überschlagen). Aber der Traum einer durch seine Musik besänftigten, europaweit von Disco zu Disco fahrenden Jugend ist zum Marktsegment Dreamhouse geworden.
Es kann gut sein, daß sich die vereinigten HörerInnen des Eurobinnenmarkts in einem Jahr nicht mehr an ihn erinnern. In seiner Heimatstadt Fagagna, dem kleinen Ort bei Udine, hat man ihm aber sicher ein schön gelegenes Anwesen hergerichtet. Der ortsansässige Schmied arbeitet vielleicht schon am Schriftzug, der über der Zufahrt hängen wird: „Dreamland“.
Dream Listening:
Robert Miles: „Dreamland“ (Motor); DJ Dado: „The Album“ (Zyx);
Compilations: „More Than Miles“ (Motor), „Dream Dance“ (Sony), „X-Trance“ (Zyx), „Dreamhouse“ (Arcade).
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