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Evian und Bourbon

■ Familiendrama, autobiographisch: Jennifer Jason Leigh spielt in "Georgia" die Rolle ihrer eigenen kleinen Schwester

„No More Hard Times“ ist ein dramatischer Song. Georgia singt ihn, frenetisch von Zehntausenden bejubelt, in Seattle, während ihre kleine Schwester Sadie weinend vor Haß, Rührung und Enttäuschung im Publikum sitzt. Sadie ist auch Sängerin, Punksängerin. Das heißt, sie möchte gern eine Sängerin sein: Sadie, ein totenblasses Wesen, kann nicht singen, jedenfalls nicht so wie ihre berühmte Schwester Georgia. Hundert Ketten baumeln um Sadies Hals, wenn sie in halbleeren Klubs ins Mikrofon röchelt. Am Ende von Sadies Auftritten sind die Klubs leer. Sadie kann Georgia nicht loslassen. Georgia wird Sadie nicht los.

Sadies Seele wird nie satt. Ihre Beine und Arme, ach was, Ärmchen, sind beängstigend mager, selbst ihr Make-up ist Spiegel und nicht Maske – eher Gothic als Punk. Sadie ist immer eine Spur zu gutgelaunt, sie findet die Dinge zu schnell und zu oft „großartig“. Nur läßt sich dieser angestrengte Überschwang auf die Dauer mit Glauben allein nicht durchhalten.

Verzweiflung und Trotz statt Hoffnung

„Georgia“ war die Idee der 34jährigen Jennifer Jason Leigh, die eigentlich Jennifer Leigh Morrow heißt und eine drei Jahre ältere Schwester hat – Carrie. Barbara Turner, Schriftstellerin, Mutter von Carrie, Jennifer und Mina Morrow und Drehbuchautorin von „Georgia“, beschreibt die junge Carrie in der amerikanischen Vogue als spontan, explosiv und exzessiv großzügig, was deren eigene Sachen anging – und leider auch die Sachen der anderen. Jennifer soll die „andere Seite der Münze“ gewesen sein: still, in sich gekehrt, ja fast vornehm, sanft und verschlossen – „die Gute“, wie Carrie sie nannte. Carrie lief mit sechzehn von zu Hause weg und schloß sich einem Zirkus an. Sie hatte ein Riesenproblem mit Heroin und Alkohol, schaffte jedoch vor vier Jahren den Absprung. Wenn alles gut geht, wird Carrie ab dem nächsten Jahr als Drogenberaterin arbeiten.

Daß Jennifer Jason Leigh das häusliche Schwesterndrama um jeden Preis auf der Leinwand austherapieren wollte – sie gewann nicht nur die Mutter für das Projekt, sondern boxte den Film auch beim Regisseur Ulu Grosbard durch –, läßt sich nicht damit erklären, daß der Tag immer wieder in die Nacht fällt. Grosbard („Rosen für die Lady“, „Fesseln der Macht“) zeigte sich schon früher fasziniert von Familiendramen und „Leuten, die eine Leidenschaft für etwas haben, wozu sie kein Talent besitzen, und es trotzdem tun“. Auch Sadie ist so ein Mensch: mehr Verzweiflung als Mut, mehr Trotz als Hoffnung. „Georgia“ ist gewiß kein Film, der einen nicht mehr ruhig schlafen läßt, aber in seinem Kontext ist man versucht, Jennifer Jason Leighs anderen Lebensextremistinnen („Letzte Ausfahrt Brooklyn“, „Weiblich, ledig, jung sucht...“, „Mrs. Parker und ihr lasterhafter Kreis“, „Dolores Claiborne“) eine andere, persönlichere Dimension zuzuschreiben. Jennifer Jason Leighs Fähigkeit, wie ein Chamäleon in die Haut jeder denkbaren Figur zu schlüpfen, um sie exzessiv auszuspielen, geriet oft genug in den Ruch eines rein technischen Formalismus, und auch ihre Interpretation der Sadie ist nicht ganz frei davon. Doch Sadie ist nicht einfach ein Gespenst, ein zitterndes Wrack, sondern peinlich, wenn sie sich auf der Bühne als „Georgias kleine Schwester“ beim Publikum einzuschmeicheln sucht – ein tragischer Parasit. Sie verkommt. Jeder will sie eigentlich los sein.

Sadie lebt, wovon Georgia singt

„Georgia“ bliebe eine reine Privatangelegenheit, wenn diese Art Familiengeschichten nicht so universell wären, daß man sie immer wieder aufs neue drehen muß. „In jeder Familie haben Gespräche wie Schweigen ihre Geschichte“, so Barbara Turner. „Auch die Körpersprache. Einfache Sätze erweisen sich als Minenfelder. Man muß sich gegenseitig vertrauen, um sich nicht zu verletzen. Besser: um sich nicht absichtlich zu verletzen. Du erwartest, daß dir vergeben wird. Du erwartest die Wahrheit – das heißt, eine Art Wahrheit. Sie kann dir im Weg sein. Du willst nicht unfreundlich sein. Es funktioniert nicht immer.“ Es funktioniert wie Bourbon-Whisky auf Evian-Wasser. Georgia hat alles, Kinder, einen Mann, Fans, Liebe, ohne den Erfolg jemals gesucht zu haben – er ist ihr vielmehr durch ihr Talent in den Schoß gefallen. Sadie wünscht sich nichts sehnlicher als eigenen Ruhm und – das ist immer das eigentliche Drama – die Bestätigung durch ihre berühmte Schwester noch dazu. „Du willst keinen Ärger“, sagt Sadie. „Du kriegst nie genug“, antwortet Georgia. Am Ende sieht man Sadie wie zu Anfang in einer halbleeren Bar ins Mikrofon röcheln. Sadie driftet, denn das macht nun einmal ihr Leben aus, weiter knapp oberhalb der Wassermarke. Sie wird nie so richtig oben schwimmen, aber sie geht auch nicht unter. Sadie lebt, wovon Georgia singt. Wenn man ganz weit vorn ansetzt, ist das vielleicht der Sinn. Anke Westphal

„Georgia“. Regie: Ulu Grosbard. Kamera: Jan Kiesser. Produktion: Jennifer Jason Leigh und Barbara Turner. Mit Jennifer Jason Leigh, Mare Winningham u.a. USA 1996, 117 Min.

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