: Verworrene Aussagen zur Lage in Tschernobyl
■ Neutronenstrahlung im Sarkophag liegt zwischen „normal“ und 110fach erhöht. Neue Meßgeräte werden zur angeblich besseren Überwachung eingebaut
Kiew (taz/AP/rtr) – Wie hoch die Strahlung im 1986 explodierten Unglücksreaktor Nummer 4 von Tschernobyl noch steigt oder schon gestiegen ist, bleibt unklar: Wiktor Barjachtar, Nuklearwissenschaftler und Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften in Kiew, sagte gestern, im Laufe der Woche sei ein erhöhter Neutronenfluß gemessen worden. Er liege um das 5- bis 110fache über der Norm.
Werksdirektor Sergej Parschin versicherte am Mittwoch, in und um das ukrainische AKW sei an diesem Tag keine erhöhte Strahlung gemessen worden. Auch der Neutronenfluß sei normal gewesen. Laut Chef der Überwachungsbehörde für die Betonhülle des Blocks 4 meldeten zwei der Meßgeräte am 13. und am 16. September für etwa eine Stunde einen erhöhten Neutronenfluß – andere Quellen sprachen von einem zwei- bis zehnfachen Level.
Laut einem von Greenpeace verbreiteten Bericht russischer Wissenschaftler war schon im Sommer 1990 im Sarkophag eine 60fach höhere Neutronenaktivität aufgetreten. Erstarrte Lava aus geschmolzenen Brennelementen war von einem Raum in den nächsten gebrochen. Im Betonbunker wurde damals eine Lösung des Elements Gadolinium versprüht: Ein Neutronenfresser, der durch herumfliegende Neutronen ausgelöste Kettenreaktion stoppt, solange sie nicht zu stark ist. Wissenschaftler meinen, daß für eine Kettenraktion und damit eine zweite Tschernobyl-Katastrophe eine mehrere zehntausendmal höhere Intensität nötig sei.
Laut AKW-Direktor Parschin werden einige Dutzend neue Sensoren innerhalb des Sarkophags plaziert. Es solle verhindert werden, daß es dort noch zu kleineren Reaktionen kommt. Wer die Meßgeräte anbringen soll und wie sie irgendwelche Kernreaktionen verhindern sollen, blieb unklar. Derzeit arbeiten nach ukrainischen Angaben ein Dutzend Fühler für Neutronenstrahlung im strahlenden Innern des Sarkophags. Durch ein engmaschigeres Meßnetz würde eine stärkere Kernreaktion im Sarkophag schneller erkannt. Gegenmaßnahmen könnten früher und gezielter eingeleitet werden. „Ob wir ihn dann völlig verstehen, können wir immer noch sagen“, sagte der Direktor. rem
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