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Warten auf den Sanitäter

Safwan Eid, der Angeklagte im Lübecker Brandprozeß, wirkt selbstbewußt, sicher. Aber heute präsentiert die Staatsanwaltschaft ihren Kronzeugen  ■ Von Jan Feddersen

Der Angeklagte spitzt seinen Mund zu einem knappen Lächeln. Ja, er werde nun aussagen, läßt er durch seine Anwältin Gabriele Heinecke ausrichten. Am zweiten Verhandlungstag scheint sich seine Aufregung gelegt zu haben. Zwei Tage zuvor, am ersten Tag des Prozesses gegen ihn, wirkt er zwar auch nicht nervös. Aber Richter Rolf Wilcken, der in etwas verknautschter Körperhaltung fast hinterm Richtertisch verschwindet, akzeptiert die Begründung seiner Verteidigerin, daß Safwan Eid sich erst an die Atmosphäre im Gerichtssaal gewöhnen müsse. Im übrigen, so Heinecke, sei Eid unschuldig.

Nein, einen Dolmetscher brauche er nicht immer. Ruhig geht er in die Mitte des Saales, setzt sich auf den bereitstehenden Stuhl, schaut dem Vorsitzenden Richter Rolf Wilcken direkt ins Gesicht. Daß ihm die Anklage, für den Tod von zehn Menschen verantwortlich zu sein, beschwert, ist nicht ersichtlich. Da sitzt kein Sünder, niemand, der Kopf und Kragen retten will oder mit einer milden Strafe davonkommen möchte. Safwan Eid verbreitet Selbstsicherheit. Seine Körperhaltung signalisiert: Ich kann es nicht gewesen sein, der als Bewohner des Asylbewerberheimes in der Lübecker Hafenstraße dieses Haus in der Nacht vom 17. auf den 18. Januar dieses Jahres angezündetet hat.

Und seine Haltung betont: Welch ein Irrtum! Kurz schaut er zu den beiden Staatsanwälten, bevor er seine Aussage beginnt. Auf die muß es provozierend wirken – doch Michael Böckenhauer, der Staatsanwalt, der hauptsächlich die Anklage gegen Eid formuliert hat, läßt nicht durchblicken, ob er überhaupt Körpersignale lesen will.

Eid sieht frisch aus in seinem hellen Hemd, seinem Sakko und den gekämmten Haaren – wie einer, der bei einem Vorstellungsgespräch besonders korrekt scheinen will. Über die Zeit in dem Asylheim in der Hafenstraße sagt er, daß seine Familie dort ein „bißchen glücklich“ gewesen sei.

Seine Anwältinnen müssen ihn gut vorbereitet haben. Richter Wilcken hält es für die vornehmste Aufgabe eines Prozesses, die Fakten selbst zu ermitteln und sie nicht nur aus den Akten zu erschließen. Safwan Eid spricht über sich. Der Richter hört zu, die Staatsanwälte rascheln mit ihren Papieren.

Zweiter Tag beim Prozeß gegen den gebürtigen Libanesen. Die Große Strafkammer des Lübecker Landgerichts tagt just in dem Saal, in dem Marianne Bachmeier Anfang der achtziger Jahre den Mörder ihrer Tochter Anna erschossen hat. Die Demonstranten sind nicht mehr zugegen. Am Montag zuvor, bei der Prozeßeröffnung, hatten sie noch die hohen Ahornbäume vor der Fensterfront des Saales mit Transparenten zugehängt: „Freiheit für Safwan Eid“.

Manche aus den Soligruppen, die den jungen Mann nie für den Täter, immer für ein Opfer hielten, sitzen noch unter den Zuschauern. Viele haben Schreibblöcke auf den Knien liegen. Jedes Detail wird festgehalten. Den Brand und seine juristischen Folgen begreifen sie als ähnliches Menetekel wie den Reichtagsbrand 1933 für die Stimmung im frühnationalsozialistischen Deutschland: nichts als Willkür und Vertuschung.

Doch Anhaltspunkte für einen Schauprozeß gegen einen Unschuldigen finden sie nicht. Selbst Beate Klarsfeld, erfahrene Antifaschistin aus Frankreich und in Deutschland prominent, seit sie den früheren Bundeskanzler Kurt- Georg Kiesinger wegen dessen Nazivergangenheit öffentlich ohrfeigte, findet, daß „der Prozeß bisher sehr sachlich verlief“.

Als schließlich Richter Wilcken, ein kleiner, 52 Jahre alter und ganz unschneidiger Mann, der ebensogut einem kleinen Lebensmittelladen auf dem flachen Land als grantig-gütiger Filialleiter vorstehen könnte, vor dem zweiten Verhandlungstag mit brummiger Stimme mahnt, doch bitte „wie üblich in Hochdeutsch“ zu verhandeln, wird dies atmosphärisch als kleiner Punktsieg für Eid verbucht: „Der geht mit den Staatsanwälten ganz schön forsch um“, lobt eine junge Frau mit Punkfrisur.

So spricht denn Safwan Eid betont freundlich, ohne sich anzubiedern. Kindheit in Tripoli, einige Jahre in Saudi-Arabien, dann zurück in sein Heimatland. Vom beginnenden Bürgerkrieg weiß er nichts. In der Schule sei er nur schlecht mitgekommen, in Saudi- Arabien würden Kinder von Gastarbeitern nicht gefördert, so daß er im Libanon vor allem scheiterte, weil er kein Französich konnte.

Schließlich Ankunft in der Bundesrepublik, Anfang der neunziger Jahre. Nein, einen Beruf habe er nicht erlernt. Das von ihm – unter anderem von den Lübecker Nachrichten, dem örtlichen Monopolblatt – kolporierte Bild eines Hitzkopfes bestätigt er nicht. Im Gegenteil. Er scheint ganz der gute Sohn zu sein, der die Wogen in der elfköpfigen Familie ausgleicht und für Ruhe sorgt.

Richter Wilcken interessiert sich sehr genau („Saßen Sie links oder rechts?“) für seinen Bericht von der Brandnacht. Fragt, was er getan hat. Wie er den Alarm erst nicht ernst genommen hatte („Ja, aber es ist nur ein kleines Feuer“), weil es so oft nicht stimmte, wenn das Feuersignal ertönte. Im Arabischen gebe es ein Märchen, erzählt Eid, das handelt von einem Schäfer, der zweimal die Dorfbewohner herbeiholte, weil ein Wolf die Schafe reiße. Beim dritten Mal sei keine Hilfe mehr gekommen, da habe der Alarm aber gestimmt.

Der Angeklagte erntet dafür Kopfnicken bei den Zuschauern. Er berichtet nicht aufgeregt, er scheint es sogar zu genießen, seine Version darzulegen. Daß er gesagt hat, was sein Vater ihm in der ersten Aufregung während des Brandes zurief: „Die war'n's.“ Nicht „wir“, wie die Staatsanwaltschaft behauptet. Eid verzieht kurz die Miene, als Richter Wilcken ihm diese Variante vorträgt. Und als Böckenhauer nachhakt und bemerkt, er habe doch „Nur Gott ist mein Richter“ nach dem Brand gesagt, guckt Eid kurz nach rechts zum Staatsanwalt und sagt: „Ja, aber das stimmt doch auch. Bei unserem wie bei Eurem Gott.“

So macht Böckenhauer, der 40jährige, der vielleicht deshalb von seinen Kollegen als ein Mann mit weichem Herz beschrieben wird, weil er wie ein großer Junge aussieht, mal wieder keine gute Figur. Überhaupt kann man sich eines Mitgefühls nicht erwehren, wenn er spricht: Gegen Heinecke und ihre Hannoveraner Kollegin Barbara Klawitter haben weder er noch sein Kollege Axel Bieler auch nur den Hauch einer Chance.

Womöglich hat er nicht gewußt, was auf ihn juristisch, aber auch persönlich zukommen sollte, als im Frühsommer das Lübecker Unterstützerkomitee für Safwan Eid die Ablösung des wackeren Asylanwalts Hans-Jürgen Wolter betrieb und zugleich Gabriele Heinecke, erfahrene Anwältin in Politprozessen, gewann. Heinecke erreichte flugs die Freilassung Eids aus der Untersuchungshaft. Der Tatverdacht sei nicht hinreichend genug, befand Richter Wilcken, der schon damals mit dem Fall befaßt war, als er die Haftbeschwerde prüfte.

Nun vertritt Heinecke also ihren Mandanten auch vor Gericht – professionell, wie ihr auch Richterkollegen von Wilcken attestieren. Auch sie scheint nicht etwa zu verteidigen, sondern in Wirklichkeit anzuklagen. Sie will nicht nur den Freispruch für Eid, sondern sie will auch die Täter. Und sie hat alles im Griff. Geht vor der ersten Verhandlungsminute ganz kühl und mit immergleichen mokantem Lächeln zum Tisch der Staatsanwälte, um diese wie auch die fünf Sachverständigen kurz mit Handschlag zu begrüßen: So steckt eine ihr Terrain ab.

Und während Böckenhauer und Bieler hastig in ihren Akten blättern, der 31 Jahre junge Bieler hin und wieder auf seinem Laptop etwas eintippt, sitzen Heinecke und Klawitter hochkonzentriert auf ihrer Bank, blättern gleichfalls in ihren Unterlagen. Aber bei ihnen sieht dies viel kundiger aus. Sie haben offenbar ihren Text gelernt.

Barbara Klawitter, mit deren Teilnahme am Prozeß niemand zuvor gerechnet hatte, kennt Heinecke aus gemeinsamen Verteidigerinnentagen. Beispielsweise aus dem Verfahren gegen die Zeitschrift radikal. Man sprach damals davon, daß Klawitter und Heinecke die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft mit chirurgischer Präzision auseinandernahmen. Beide wissen, daß Böckenhauer, von seinen Vorgesetzten allein gelassen mit seiner Arbeit zum Brandprozeß, nur eine Chance gegen sie hat: Wenn der Sanitäter Jens L., der gehört haben will, daß Safwan Eid „Wir war'n's“ nach dem Brand im Rettungsomnibus gesagt hat, dies auch am dritten Verhandlungstag, heute, auch unter Eid bestätigt.

Nur diese eine Chance hat Böckenhauer. Ansonsten reichen seine Indizien kaum: Safwan Eid hatte kein Motiv. So reagiert der Ankläger haspelig, schlimmer noch: ungeduldig, sobald er selbst das Wort ergreift – während Klawitter mit hoher Stimme und eisig im Timbre dem Richterkollegium auf die Zehntelsekunde genau „Anregungen“ gibt und dabei wie nebenbei auf die Taste ihres Mikrophons drückt, um sich Gehör zu verschaffen. Das kommt rhetorisch professionel daher wie ein Stück aus dem Lehrbuch. Nie wirkt sie unfreundlich, aber jeder merkt, besser wäre es, diese Anwältin nicht zur Gegnerin zu haben.

Böckenhauer und Bieler haben zudem keinen Sinn für das Ansinnen Richter Wilckens, den Prozeß so zu führen, daß wirklich geklärt wird, was zu erhellen ist: Stets klingen ihre Fragen wie Anklagen, nicht wie Elemente auf dem Weg zur Wahrheitsfindung. Wenn sie „Vorhalt“ und damit ein Beweisstück oder eine Aussage meinen, machen sie sich keine Freunde im Gerichtssaal: Sie scheinen nur ein Urteil zu wollen, keine Klärung.

Zudem duzen Heinecken und Klawitter ihren Mandanten: Das ist ungewöhnlich. Aber diese offene Parteilichkeit irritiert nicht, sondern wirkt vertrauensweckend, wirkt integer, unabhängig von der Faktenlage. Es sind ja auch vorläufig nur Geplänkel, denn der Showdown läuft. Heute ist der Zeuge der Anklage geladen. Von ihm hängt alles ab. Im ungünstigsten Fall steht am Ende Aussage gegen Aussage – für das Gericht.

Böckenhauer scheint nicht ohne Resignation die Prozeßwoche überstanden zu haben. In einem Interview sagte er, nötigenfalls selbst auf Freispruch plädieren zu wollen. Bis dahin gilt für ihn wie für alle: Warten auf den Sanitäter.

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