: Dem Vormund hilflos ausgeliefert
Von der Verwaltung gestellte Vormünder für minderjährige Flüchtlinge behindern das Asylverfahren. Jugendliche werden nicht beraten und nicht über Einspruchsfristen gegen die Ablehnung informiert ■ Von Marina Mai
Der 15jährige Islam aus Bangladesch hatte gesehen, wie Männer seinen Vater umbrachten. Er zeigte die Mörder an. Die Polizei forderte seine Mutter auf, die Anzeige zurückzuziehen, weil man sonst nicht für das Leben des Sohns garantieren könne. Die Familie gab dem Jungen Geld für seine Flucht ins Ausland. Am 22. 1. 1996 kam er als unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber, wie es im Amtsdeutsch heißt, nach Berlin.
Danilo Büttner vom Jugendamt Treptow wurde Vormund des 15jährigen und stellte für ihn den Asylantrag. Das darf der Minderjährige nicht allein. Seit 1995 obliegt die Vormundschaft von Berliner Flüchtlingskindern in der Regel dem Jugendamt Treptow. Zuvor wurde diese Aufgabe meist von Einzelvormündern oder karikativen Organisationen wahrgenommen, die eine Aufwandsentschädigung von 75 Mark pro Monat für ein „Mündel“ – so der amtsdeutsche Name für die betreuten Minderjährigen – bekamen. Das war zu teuer.
Danilo Büttner „betreut“ gleich 600 Flüchtlingskinder. Er hat ebenso viele „Mündel“ wie andere Vormunde, obwohl er ausschließlich für Flüchtlingskinder zuständig ist, wo der Arbeitsaufwand ungleich höher ist. Büttner hat für den Schriftverkehr mit seinen „Mündeln“ Formblätter entwickelt. In einem Serienbrief informiert er über seine Bestellung zum Vormund und fordert den Jugendlichen auf, in seine Sprechstunde zu kommen. Die Konsultation dient der Antragstellung. Um einen Dolmetscher für das Gespräch soll sich der Jugendliche allein bemühen. („Bitte, erkundige dich vorher, ob ein Dolmetscher anwesend ist.“) Weitere Serienbriefe informieren – wiederum in Deutsch – über den gestellten Asylantrag, die Prozedur der Anhörung im Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge und schließlich über den Anhörtermin. Zu den Aufgaben des Vormunds gehört es offensichtlich nicht in jedem Fall, das „Mündel“ zur Anhörung zu begleiten. Deshalb ermächtigt Vormund Büttner das Bundesamt in einem Serienbrief: „Sollte unser Mündel ohne Vertretung des Vormunds erscheinen, gestatten wir die Vornahme erkennungsdienstlicher Maßnahmen sowie die Anhörung.“ Im Klartext: Der gesetzliche Vertreter schickt Jugendliche unbegleitet zu einer Behörde, die eine Entscheidung über den weiteren Lebensweg zu treffen hat. Eine Entscheidung, die für sein ganzes Leben Folgen hat: Ist sein Asylantrag berechtigt, und darf er folglich im Bundesgebiet bleiben? Oder aber wird er in sein Heimatland oder in einen „sicheren Drittstaat“ abgeschoben? Auch ein Rechtanwalt ist nicht vorgesehen.
Dann wird es einen weiteren Serienbrief des Vormunds geben, der das „Mündel“ auffordert, den Asylbescheid abzuholen. Denn der geht nicht an den Flüchtling, sondern an seinen Vormund. Diesen Brief aber hat Islam nicht bekommen. Er erfuhr im August von der Ausländerbehörde, daß der Asylantrag abgelehnt wurde und er sich unrechtmäßig noch im Bundesgebiet aufhielte. Die Widerspruchsfrist von einer Woche war da bereits weit überschritten. Islam konnte gerade noch aus der Ausländerbehörde flüchten, die seine Abschiebung einleiten wollte.
Kein Einzelfall. Auch der Vietnamese T. erfuhr von Vormund Büttner erst am 5. Februar 1996 vom Eingang des Asylbescheids. Der war aber auf den 7. November 1995 datiert. Danilo Büttner hatte weder für seine „Mündel“ Widerspruch eingelegt, noch ihnen selbst die Chance gegeben, innerhalb der Widerspruchsfrist eine Ausländerberatungsstelle oder einen Anwalt zu konsultieren. Das CDU-regierte Treptower Jugendamt gestattete Vormund Büttner nicht, der Presse seine Gründe dafür darzulegen. Statt des Vormunds antwortete der leitende Fachbeamte, Dietrich Fenner, der Islam selbst nicht kennt: „Oft ist es schwierig, die Jugendlichen zu erreichen, weil sie sich nicht dort aufhalten, wo sie gemeldet sind. Es gibt auch Kommunikationsprobleme mit den Heimen.“ Den Vorwurf, sich nicht im Heim aufgehalten zu haben, weist Islam weit von sich. Bleiben die Kommunikationsprobleme, aufgrund derer dem Flüchtlingskind in Berlin kein faires Asylverfahren ermöglicht wird.
Islam hatte mit Hilfe eines Anwalts noch gegen die Ablehnung seines Asylbescheids zu klagen versucht. Das Verwaltungsgericht erkannte die Klage nicht an: Sie wurde weit nach Fristüberschreitung eingereicht. Und die durch den Vormund verschuldete Fristüberschreitung wird dem „Mündel“ angekreidet. Islam hatte noch Glück, daß er überhaupt klagen durfte, ohne seinen Vormund um Erlaubnis zu fragen: Er war inzwischen 16 und damit asylmündig geworden. Zwei anderen bengalischen Jugendlichen wurde durch den Vormund die Rechtsanwaltsvollmacht verweigert. Die Anwaltskosten muß ein Flüchtlingskind allein zahlen.
Bei T. war sein Vormund nicht in der Lage, seinen Vor- und Nachnamen zu unterscheiden. Dietrich Fenner meint aber nicht, daß hier Nachholbedarf in der Qualifikation der Mitarbeiter bestehe. „Es gibt ja wenige Sprachen, in denen wie im Vietnamesischen der Nachname vor dem Vornamen steht. Wenn morgen jemand aus irgendeiner Minderheit im Himalaya Asyl begehrt, können wir deshalb nicht die dortige Kultur kennen.“
Gegenwärtig liegt im Abgeordnetenhaus ein Antrag der Bündnisgrünen vor, nicht Amtspersonen, sondern karitative Organisationen mit der Vormundschaft zu beauftragen. Die Abgeordnete Jeanette Martins begründet dies mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz, das eine Amtsvormundschaft nur in Ausnahmen vorsieht.
Wie sollen Amtsvormünder eine Entscheidung treffen, wenn sie als Beamte im Konflikt stehen zwischen Kindeswohl und Staatstreue? Wie zum Beispiel, wenn es dem Kindeswohl entspräche, die Öffentlichkeit über das Schicksal eines „Mündels“ zu informieren, der Stadtrat aber keine Genehmigung zu Gesprächen mit den Medien erteilt?
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