: Menschenverachtende Diskussion
■ Hertens Volksbewegung gegen eine psychiatrische Klinik für Straftäter duldet keinen Widerspruch. Stadtrat gibt nach
Herten (taz) – Das Tempo der Hertener PolitikerInnen und ihrer Stadtverwaltung ist beeindruckend. Kaum zwei Wochen, nachdem geheimgehaltene Baupläne für eine Straftäterklinik an die Öffentlichkeit gedrungen waren, schlug der Hertener Stadtrat am Mittwoch abend zurück, indem er den Bebauungsplan änderte: Die Veränderungssperre als politisches Kampfinstrument – und fast alle machen mit.
Volkes Wille geschehe. Und das Volk hat gesprochen: 37.000 Unterschriften kamen in Windeseile zusammen, und das in einer Stadt mit nur 53.000 erwachsenen EinwohnerInnen. Demonstrationen, Diskussionen, Leserbrieffluten, die Volksseele kocht in der am nordlichen Rande des Reviers liegenden Kleinstadt.
Daß davon bei der Ratssitzung am Mittwoch kaum etwas zu spüren ist, hat einen ganz einfachen Grund: Das zuhörende Volk und seine VertreterInnen in den großen Parteien sind sich nämlich weitgehend einig: Die vom Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) und von der Landesregierung gemeinsam geplante forensische Psychiatrie für psychisch kranke Straftäter darf nicht nach Herten kommen.
„Die Pläne sind ein Faustschlag mitten ins Gesicht der Stadt“, sagt Reinhard Hahn, Fraktionschef der CDU. Und weiter: „Der Schutz der Wohnbevölkerung hat absoluten Vorrang vor den Therapiebemühungen von Schwerstkriminellen.“ An deren Therapiefähigkeit glaubt Hahn ohnehin nicht.
Beim SPD-Bürgermeister Karl- Ernst Scholz klingt das zwar ein wenig anders – „wir wollen keinen Zweifel daran aufkommen lassen, daß psychisch kranke Straftäter therapiert werden müssen“ –, aber einig sind sich CDU und SPD, daß „solche Sonderkliniken nicht in dichtbesiedelten Bereichen und damit nicht in Herten gebaut werden dürfen“, so Scholz. Wer, wie die Grünen, sich dieser Ablehnungsfront nicht vorbehaltlos anschließt, erntet von den Zuschauerrängen Buh- und Pfuirufe.
In Herten zählt nur noch ja oder nein, schwarz oder weiß. Wer sich um differenzierte Positionen bemüht, wird öffentlich niedergeschrien, mit Telefonterror bedroht und mit anonymen Briefen traktiert. Hubert Wessing, grüner Ratsherr, kann davon ein Lied singen. „WENN SEXMÖRDER NACH HERTEN KOMMEN, SIND DIE EIER AB! WIR SIND VIELE: HERTEN WEHRT SICH GEGEN GRÜNE“, so lautete einer der anonymen Briefe, die bei Wessing nach der ersten, tumultartigen Sondersitzung des Rates in der vergangenen Woche auf dem Schreibtisch landeten.
3.000 Menschen hatten bei dieser Sondersitzung jede abweichende Meinung vom Mehrheitskurs rigoros mit Pfeifkonzerten und Schmährufen niedergemacht, aber zu Plakaten mit Aufschriften wie „Müll ja, Verbrecher nein“ beredt geschweigen.
Nur wenige fanden in Herten den Mut, gegen diese Hysterie ihre Stimme zu erheben. Zu ihnen gehört Thomas Leinweber, der in einem Leserbrief an die örtliche Zeitung schrieb, ihm habe während der Veranstaltung zwar niemand seine Angst vor der forensischen Klinik nehmen können, aber gleichzeitig ängstige ihn die „menschenverachtende“ Diskussion über die Straftäter und die Art, wie in Herten „Andersdenkende niedergeschrien werden“. Er sei deshalb nicht bereit, sich einer solchen Bewegung anzuschließen. Als Vater zweier Kinder sei er in seiner Meinung über die Klinik selbst hin- und hergerissen.
Einerseits denke er darüber nach, „eine Lanze für die einsitzenden, psychisch kranken Schwerverbrecher“ zu brechen, doch anderseits stelle er auch fest, daß die „Angst, daß einer meiner Mitmenschen ein Opfer des ,Restrisikos‘ werden könnte, überwiegt“. Mit dem Hinweis der Landesbehörden, man werde „ein optimales Maß an Sicherheit schaffen“, sind Leinwebers Ängste nicht zu zerstreuen. Da helfen auch keine Zahlenkolonnen über Therapieerfolge. Walter Jakobs
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen