: „Wir raten nicht unbedingt zur Strafanzeige“
■ Die Beratungsstelle „Schattenriß“ arbeitet „parteilich“ auf der Seite sexuell mißbrauchter Mädchen
Kinderschänderskandal in Belgien, der Tod der siebenjährigen Natalie Astner in dem oberbayerischen Dorf Epfach – in Deutschland wird der Umgang mit Sexualstraftätern (wieder) diskutiert. Auch Bremens Innensenator Ralf Borttscheller gab bekannt, daß Therapiemöglichkeiten für die Täter fehlten. Höher als das öffentliche Bewußtsein für sexuellen Mißbrauch an Kindern ist jedoch immer noch die Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle. Bei „Schattenriß“, der Bremer Beratungsstelle gegen sexuellen Mißbrauch an Mädchen, wurden diese Woche allein fünf neue Fälle gemeldet, letzte Woche waren es 12, die Woche davor sieben. Die taz sprach mit Sozialpädagogin Andrea Heuschmid von „Schattenriß“.
taz: Wie schaffen Sie es, daß die Mädchen überhaupt zu Ihnen kommen oder bei Ihnen anrufen?
Andrea Heuschmid: Wir verteilen verschiedene Infoblätter, die teils die Mädchen, teils die Erwachsenen ansprechen, an Schulen, Kindergärten oder Jugendeinrichtungen. Es sind ja oft nicht die Mädchen selbst, die anrufen, sondern Kontaktpersonen. Mütter oder Lehrerinnen, denen auffällt, das sich ein Mädchen plötzlich anders verhält.
„Schattenriß“ arbeitet feministisch. Was heißt das?
Wir arbeiten im Grunde parteilich. Das heißt, daß wir den Mädchen und Frauen, die zu uns kommen, erst mal glauben.
Begreifen sich die Mädchen selbst als Opfer?
Wir benutzen diesen Begriff ,Opfer' nicht. Wir versuchen eher, andersherum zu definieren, indem wir sagen, der Täter ist derjenige, der die Verantwortung trägt für die Tat. Die Mädchen sind schon die Geschädigten, sie haben darunter zu leiden, sie sind verletzt worden. Wir versuchen, das eher in Worten zu beschreiben als mit diesem nackten Begriff ,Opfer'.
Welche Einstellung bringen die Mädchen mit?
Sie begreifen sich tatsächlich oft gar nicht als Opfer. Sie kommen hierher, weil's ihnen schlecht geht. Weil sie damit nicht mehr klar kommen. Weil sie nicht schlafen können. Weil sie, immer wenn's ans Einschlafen geht, diesen Traum haben: Die Tür geht auf und er kommt rein. Oder Panikzustände haben oder sich körperlich unwohl fühlen. Aber sie selbst würden das nicht Mißbrauch nennen, denn das sind nicht ihre Worte. Der Begriff ,Opfer' paßt da auch nicht, weil die Mädchen sich zwar der Mißbrauchssituation ausliefern und mit ihrer Abwehr nicht durchkommen. Aber sie sind auch Mädchen, die ganz viel Kraft und Stärke haben, weil sie die Situation oft über lange Jahre durchstehen.
Interessieren Sie sich auch für die Täter?
Wir konzentrieren uns auf die Mädchen. Wir fordern mehr sozialtherapeutische Maßnahmen für die Täter. Wir raten aber den Mädchen nicht unbedingt zur Strafanzeige. Wir klären mit den Mädchen ab, ob und welches Beweismaterial es gibt. Wir klären auch ab, wie deutlich ein Mädchen über den Mißbrauch reden kann. Denn vor Gericht wird peinlich genau alles abgeklopft. Da wird gefragt: wie sah die Gardine aus, wie der Vorhang. Oder: du hast mal gesagt, es war nachts, jetzt sagst du, es war tagsüber. Wir wollen den Mädchen zusätzliche Qualen ersparen.
Sie sitzen in dem „Arbeitskreis für den Umgang mit Betroffenen sexueller Gewalt“ und reden mit Gefängnisleitern, AnwältInnen, RichterInnen. Wo sind in Bremen ganz konkret noch Defizite?
In letzter Zeit wird immer deutlicher, daß auch Jungen betroffen sind. Wir brauchen für sie extra Angebote. Wir brauchen Anlaufstellen in allen Stadtteilen.
Haben Sie Kritik an der Bremer Justiz?
Es ist nach wie vor schwer, die Justiz zum Beispiel zu unseren Fortbildungen zu bewegen. Das liegt sicher daran, daß die Leute auch Angst vor unserer Parteilichkeit haben. Da geht uns einfach auch der Ruf der feministischen Beratungsstelle voraus. Fragen: sip
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