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Generationenkonflikt im Aquarium

Wenn Großvater sein Akkordeon rausholt, macht der Schwiegersohn den Ghettoblaster an: „Allee der Kosmonauten“, Sasha Waltz' neueste Tanzproduktion beschwört das Chaos – und endet doch in schönster Ordnung  ■ Von Michaela Schlagenwerth

Zu DDR-Zeiten wurden manche der 91 (!) Räume als Abstellplatz benutzt, der 1.200 Menschen fassende, mit prächtigem Stuck und einer rund um den Raum laufenden Galerie versehene Festsaal diente den Theatern als Proberaum, der Rest stand leer. Die Sophiensäle, im Auftrag des Berliner Arbeitervereins gebaut und 1905 eröffnet, befanden sich sozusagen auf dem Abstellgleis der Geschichte. Einst wurde hier allwöchentlich jüdisches Theater gegeben, und alles, was Rang und Namen hatte in der revolutionären Arbeiterbewegung, war bei politischen Veranstaltungen vertreten – von Karl Liebknecht über Clara Zetkin bis zu Thälmann und Mühsam.

Als sich vor einem knappen Jahr Jochen Sandig und Zebu Kluth um den verlassenen Gebäudekomplex bemühten, schien das Unterfangen ziemlich aussichtslos, und so ganz haben wohl selbst die Initiatoren nicht an den Erfolg geglaubt. Heute ist Kluth Intendant des Theaters am Halleschen Ufer, und die Sophiensäle scheinen sich – obwohl es bislang keine Förderung gibt – zu einem Künstlerzentrum zu entwickeln, in dem sich die Berliner Off-Avantgarde aus Tanz und Schauspiel sammelt: Jo Fabian ist dabei, Dirk Cieslak und Anna Huber. Alex B., Rubato und andere haben hier schon gearbeitet – und natürlich Sasha Waltz, die seit einiger Zeit den ehemaligen Hochzeitssaal als Trainingsraum angemietet hat.

Mit ihrem neuem Stück „Allee der Kosmonauten“ wurde nun der große Festsaal neu eröffnet, und wenn es nach Wunsch und Willen von Sandig, Waltz, Fabian, Cieslak und noch einigen anderen geht, so wird hier ab kommendem Jahr regelmäßig Theater gespielt. Aber was noch wichtiger ist: Hier sollen Stücke nicht nur präsentiert, sie sollen vor allem hier erarbeitet werden.

Auch für Sasha Waltz ist, nach Vollendung der „Travelogue“-Trilogie über Küche, Bad, Bar und Hotel und nach Verabschiedung fast aller Kompagnie-Mitglieder (nur Takako Suzuki ist geblieben), die „Allee der Kosmonauten“ ein Neuanfang.

Den Videokünstler Elliot Caplan, der mit John Cage arbeitete und mit Merce Cunningham immer noch arbeitet, hat sie für diesen Neuanfang gewonnen und sechs Familien aus der sozialistischen Plattenbausiedlung Marzahn, mit denen sie über drei Monate Interviews führte. Raus aus dem „hermetischen Künstlerkosmos“ wollte Sasha Waltz und mitten hinein in das nur scheinbar gewöhnliche Arbeiterfamilienleben.

Dokumentarisch sind nur die in sechzehn Monitoren auf der Bühne installierten Videoaufnahmen Elliot Caplans. Die Kamera gleitet über Lampenschirme, Teppichmuster und Hundefotos, und so wie das abgefilmte Wohnungsinterieur scheinen auch die sechs Menschen auf der Bühne hinter Glas zu leben: drei Generationen im Goldfischaquarium. Immer bewegen sie sich zu schnell oder zu langsam, und alles, was sie tun, ist sinnlos, dafür aber mit größtem Einsatz durchexerziert.

Was der eine ins Regal räumt, räumt der andere wieder heraus, und wenn der Großvater auf dem Akkordeon spielt, hält der Schwiegersohn mit dem Ghettoblaster dagegen. Eine unentwegte Heraufbeschwörung des Chaos, in der irgendwann, mitten im größten Familienkrieg, alles seine schönste Ordnung erhält.

Hochakrobatisch schleudern sich die Akteure durch die Luft, falten ihre Körper zusammen und auseinander und werkeln virtuos mit einem Brett, das manchmal regelrecht frei in der Luft zu schweben scheint. Nur manchmal, da fallen sie mitten in all ihren hektischen Aktivitäten, auf dem Sofa oder den Boden sitzend, an der Wand oder aneinander gelehnt, die Münder halboffen, in einen tiefen, in einen richtigen Marthaler- Schlaf.

Die Zeit scheint angehalten, selbst die Waschmaschinen auf Caplans Monitoren drehen sich nicht mehr. Die Frauen verwandeln sich in Spinnenwesen, die, den Kopf auf dem Boden, die Welt durch gegrätschte Beine betrachten; die süße Tochter mutiert zum wüst um sich schlagenden Monster, und die Großmutter scheint mit den Kleidungsstücken der Familienmitglieder diese selbst in den Sack ihres Staubsaugers einzunähen.

Die verlangsamten, oft ruckartigen Bewegungen auf den Monitoren stehen in einem merkwürdigen Spannungsverhältnis zu den Vorgängen auf der Bühne, und Sasha Waltz' immer stark durch den Rhythmus bestimmte Arbeiten erhalten hier eine neue Dimension. Nur die Dramaturgie, die stimmt noch nicht so richtig. Und auch die Tiefen im Leben des Familienlebens, die, kurz angerissen, schon wieder von Slapsticknummern zugedeckt werden. Die „Allee der Kosmonauten“ quillt über von guten Ideen, zu einem Ganzen fügt sich das Stück – bislang – allerdings noch nicht.

Weitere Vorstellungen bis zum 20.10., Mittwoch bis Sonntag, jeweils 21 Uhr, in den Sophiensälen, Sophienstraße 18, Mitte

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