Tumult im Parlament

■ Jubel am Bremer Theater: eine hörenswerte Aufführung von Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“

Die Spannung war groß: wie würde Ulrich Engelmann, Professor für Schauspiel an der Ernst Busch-Akademie in Berlin, seine erste Oper inszenieren? Und wie würde seine Sicht auf eine Oper sein, die wie keine durch Interpretations- und Rezeptionsgeschichte bis zum Mißbrauch durch die Nazis belastet ist?

Beschaulich-biedere Gemütlichkeit, falsch verstanden als Tradition, gab es nicht. Es gab keine Nürnberger Butzenscheiben und keine gotischen Fenster, sondern einen abstrakten schrägen Raum, den Hans Brosch durch Tücher, Farben und Licht flexibel nutzbar gebaut hatte. Wenn ein solcher Raum das geschlossene Weltsystem der Nürnberger Handwerksmeister und die dramatischen Ereignisse von dessen Demontage umreißen soll, verlangt das außerordentliche Darstellungsfähigkeiten der Protagonisten.

Engelmann realisiert ein ebenso einfaches wie schlüssiges Konzept: er präzisiert grundsätzliche und zeitlose Linien dieser Oper, die von dem uralten Problem des Bewahrenswerten und des Neuen in der Kunst handelt. Er vermeidet jeglichen Dogmatismus, sondern betont im Gegenteil die Zwiespältigkeit aller Personen. Indem er dann das Ganze verfremdet, wenn ein Clown die Bilder präsentiert und im jahrmarktartigen Schlußbild kräftig eingreift, erreicht er eine Sichtweise, die sehr einfach erzählt, was abgehen kann, wenn Ästhetikbewahrer und aufmüpfige Vertreter einer anderen Kunstanschauung sich treffen. Auch die Übertragung in eine politische Dimension ist gelungen: Tumult im Parlament, wenn Stolzing sein Lied vorträgt, dessen Genialität nur Sachs begreift.

Hans Sachs: er allein durchschaut die Dinge, ist jedoch nicht fähig, sich den sozialen Zwängen zu entziehen. Der „Wahn-Monolog“ im zweiten Akt wird besonders durch die reife und ergreifende Darstellung von Victor Braun zum erschütternden Schlüsselstück der Inszenierung. Und als er am Ende den Stolzing überredet, sich nicht mit solcher Arroganz der Meistersingerehre zu verweigern, hängt er dem jungen Mann nicht pathetisch die Kette um den Hals, sondern drückt sie ihm verschämt in die Hand. Und zuletzt kann auch Sachs die Meistersingergilde nicht mehr ertragen: Er hält sich die Ohren zu und rennt hinaus.

Welcher Horror die Liedgesetze der Meistersingergilde sind, zeigt Lehrjunge David (blendend präsent: Bernhard Schneider) dem erstaunten Stolzing. Der will ja nicht singen lernen, sondern Eva bekommen. Graham Sanders, sich seiner Sache sicher, muß nicht viel tun, er singt einfach. Ganz hält er die gnadenlose Partie leider nicht durch, und nach zwei glanzvollen ersten Akten wurde der dritte zur Zitterpartie. Rebecca Turner überzeugte als Eva besonders in ihrer zwiespältigen Beziehung zu Sachs, Fredrika Brillembourg glänzte als Magdalena.

Beckmesser: Wagners Karrikatur auf den Wiener Kritiker Eduard Hanslick und seine nicht eben schöne Vernichtung Andersdenkender hebt Engelmann auf: Sachs holt ihn, der sich nach der Partitur nach seinem unglaubwürdigen – denn er ist immerhin Meister – Versagen in der Menge zu verdrücken hat, zurück in die Gruppe der Meister. Ron Peo zeichnet nicht einen lächerlichen Tapsigen, sondern bis in die kleinste Körperbewegung einen Ausgestoßenen, einen, der keine Chance hat, der der Sündenbock wird, den die Gesellschaft braucht.

Die Inszenierung bietet einen kaum beschreibbaren Reichtum an denkanstoßenden Details, wenn beispielsweise in die Prügelei der Johannisnacht sich regelrechte Schläger dazuschleichen, Frauen vergewaltigen und Häuser anzünden.

Andererseits kratzt sie Patina ab, indem sie den Humor feinsinnig ausarbeitet, den Eduard Hanslick Wagner so abgesprochen hat. Es gibt viel zu schmunzeln in dieser temperamentvollen Inszenierung.

Diesen Weg geht auch der Dirigent Günter Neuhold mit seiner musikalischen Interpretation. Die gestische Deutlichkeit kleinster Motive, die Empfindsamkeit und Unaufgesetztheit, mit der hier gespielt wurde, die „unfestliche“ Durchsichtigkeit, der unerhörte Farbenreichtum der kontrapunktischen Verästelungen: auch das war ein durch und durch entrümpelter Wagner. Daß die in der Premiere viel bejubelte Produktion in dieser Qualität zustande kommen konnte, zeigt den ungebrochenen Leistungswillen aller Bremer Theaterleute. In der nächsten Aufführung, eine Festvorstellung anläßlich des 60jährigen Bestehens des Bremer Richard Wagner-Verbandes, wird der Enkel des Komponisten, Wolfgang Wagner, anwesend sein. (Aufführungen am 4.,13.,19. und 26.Oktober)

Ute Schalz-Laurenze