Perspektivkongreß ohne Perspektiven

■ Konzeptionelle Ratlosigkeit der hessischen Grünen. Fischer contra Eichel

Gießen (taz) – Sie sitzen in (fast) allen Landtagen und dem Bundestag. Sie regieren in drei Bundesländern kräftig mit. Das Bündnis 90/ Die Grünen sind schon lange eine feste Größe in der kommunalpolitischen Landschaft in ganz Deutschland. Die Bündnisgrünen sind erwachsen geworden – aber die Kassen überall leerer. Sollen, müssen sie sich daher auf den Verwaltungsvollzug konzentrieren? Nein, konstatierte ein etwas ratloser Joschka Fischer am Sonnabend auf dem Perspektivenkongreß der hessischen Bündnisgrünen in Gießen, dies allein, könne doch auch in diesen harten Zeiten nicht die „historische Aufgabe“ der Partei sein. Die Bündnisgrünen, so seine desillusionierende Analyse, hätten bislang ausschließlich vom „Ideenvorrat der 70er und 80er Jahre gelebt“. Doch der sei jetzt aufgebraucht. Und was nun? Und was tun?

Auf diese beiden Fragen sollte der vom Landesvorstand der Partei organisierte Kongreß im Philosophikum der Universität realpolitisch umsetzbare Antworten finden. Um es gleich zu sagen: Den DiskutantInnen der Auftaktveranstaltung „Reformpolitik im Umbruch“ ist es nicht gelungen, die „Gesellschaft neu zu denken“, wie es im Reader zum Kongreß noch euphorisch hieß. Denn denen, die in den Zeiten der schwindsüchtigen Haushalte noch mühsam das Schild „Reformpolitik“ hochhalten und sich obendrein an diesem „Verwaltungsvollzug“ abarbeiten, wie etwa Ministerpräsident Hans Eichel (SPD), saß mit der Publizistin Cora Stephan nur ein schwacher Counterpart aus dem Umfeld der Horxschen Trendforschung (Hamburg), Abteilung Schaumschlägerei, gegenüber.

Die Politik der visionären und der moralisierenden Appelle sei „Gott sei Dank vorbei“, hatte Stephan der Partei attestiert. Das so entstandene Vakuum müsse zwar gefüllt werden – aber nicht mit der Erarbeitung neuer Visionen oder gar Utopien. Als Therapie und Ersatz empfahl Stephan die Konzentration auf Detailfragen. Das entspreche auch den Individualisierungstendenzen innerhalb der Gesellschaft und sei deshalb systemkonforme Politik: „Große Lösungen werden im Moment nicht gebraucht.“ Jetzt gelte es, etwa das Rentenproblem zu lösen. Und das sei ein komplexes Problem, das detailliert abgearbeitet werden müsse.

Joschka Fischer hielt entschieden dagegen: Die drängendsten Probleme der Menschheit – Überbevölkerung, globale Umweltverschmutzung und Unterentwicklung – ließen sich nicht durch eine Konzentration der Politik ausschließlich auf Detailfragen, lösen. Mit „wenig Verständnis“ reagierte auch Ministerpräsident Hans Eichel auf Stephans Eloge der Individualisierung der Gesellschaft. Mit ihr, so Eichel, sei zwangsläufig eine Entsolidarisierung verbunden: „Individualisierung schön und gut, aber wer erhält dann noch die solidarischen Fundamente?“ fragte er. Die sozialen- und politischen Verbände, die „Tanker“, würden deshalb auch zukünftig noch gebraucht: Die Sozialdemokraten, die Gewerkschaften und die Kirchen. Und Eichel sagte auch, daß allem Zeitgeist zum Trotz, es immer noch gelte, „begeisternde Zukunftsprojekte“ zu entwerfen und zu verwirklichen: „Die Schaffung der angestrebten einen Welt, die Verwirklichung der europäischen Einheit und die permanente Arbeit an der solidarischen Gesellschaft.“ Er jedenfalls sei auch heute noch ein „bekennender 68er“ und ein Linker. Und unter dem Beifall des Auditoriums gerierte sich Eichel dann auch noch revolutionär: „Weg mit allen Schranken, auch den Klassenschranken. Das ist die Vision!“ Also die blauen Bände (MEW) doch noch nicht wegwerfen? Die alten Thesen auch für die neue Zeit nutzen? Cora Stephan dachte da laut über einen vorzeitigen Abgang vom Podium nach. Und Fischer konterte flugs, daß es für die grüne Partei ein Fehler wäre, sich nur auf die Traditionslinke zu stützen. Man müsse mehr auf die „Mitte“ achten, ohne deshalb gleich zur FDP zu werden.

Und was heißt das alles für die Bündnisgrünen? „Wir haben ein akutes Problem der Programmentwicklung“, klagte Fischer: „Wo sind die neuen Ansätze?“ Und Fischer monierte scharf das „Schweigen der Intellektuellen“. Es sei deshalb dringend notwendig, in den Universitäten die Geisteswissenschaften zu revitalisieren. Und warum, so Fischer, werde etwa in der Bankenstadt Frankfurt mit Unterstützung durch das Großkapital und mit Landesmitteln nicht endlich ein Institut gegründet, das sich mit den sich aus der Globalisierung der Märkte und der Europäisierung ergebenden Fragen interdisziplinär wissenschaftlich beschäftigt? Das Forschungsziel: „Der Kapitalismus mit dem menschlichen Antlitz“ (Fischer). Also die blauen Bände doch besser dem Recycling zuführen? Klaus-Peter Klingelschmitt