Argumente aus dem Technikbaukasten

■ Das Absolute light: Auf dem XVII. Philosophie-Kongreß in Leipzig wurde meist kühl über Probleme zwischen Relativismus und menschlicher Erkenntnis debattiert

Was tun eigentlich die Philosophen? Sie sitzen am Schreibtisch. Und lesen. Und denken. JedeR für sich allein. Jeden Tag. Das ganze Jahr. Es hat einige Zeit gedauert, bis ich begriffen habe, wo das Sozialleben der Philosophen stattfindet: auf Kongressen nämlich – sie sind die gesellschaftlichen Ereignisse par excellence. Ich fahre also hin. Nach Leipzig. Zum XVII. Kongreß der „Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland e.V.“ (AGPD).

Die Atmosphäre unter den rund 1.300 TeilnehmerInnen war offener, freundlicher, als es das unübersichtliche Programmheft befürchten ließ. Immerhin waren dort mehr als 300 kleinere und größere Vorträge verzeichnet, mit zum Teil auch für Leute vom Fach befremdlichen Titeln wie: „Hat die phänomenale Objektwelt in den Qualia einen metaphysischen Aspekt?“ oder: „Warum erleben wir einige unserer Hirnzustände?“

Die ganze Veranstaltung stand unter dem Motto „Cognitio humana. Dynamik des Wissens und der Werte“. Dynamik – es tut sich also was?

Hans Poser, bisher Präsident der AGPD, verteidigte eingangs mit einem geschickten Marsch durch die Philosophiegeschichte die Idee und Notwendigkeit menschlicher Erkenntnis (eben der Cognitio humana) gegen allen postmodernen Skeptizismus. Doch die Verteidigung war keine bloße Apologie – und darin lag das Spannende, aber auch Konventionelle, das die Richtung des Kongresses bestimmte. Man stellt sich den Problemen, die Moderne und Postmoderne aufwerfen – aber man fällt nicht ins Bodenlose. Daß man die wissenschaftliche Vernunft nicht vom Sockel stoßen würde, stand also fest, interessant war nun die Frage: Wie hält man sie oben? Wie geht eine Wissenschaft, die sich dem Allgemeinen, dem Wahren und Notwendigen widmet, mit Relativität, Veränderung, mit historischem Wandel um?

Da wäre zum Beispiel das „Apriori“. Apriori bezeichnet die Strukturen, die unsere Erfahrung und unser Denken überhaupt ermöglichen – wie etwa Raum und Zeit, das Denken in Kausalbeziehungen etc.; es ist mithin notwendig und immer allgemeingültig. Eine der Sektionen des Kongresses hieß: „Die Historisierung des Apriori“. Hier entwickelte unter anderem Herbert Schnädelbach (HU Berlin) ein Konzept vom „relativen Apriori“, indem er nur noch an der Notwendigkeit eines Apriori, nicht aber – wie Kant – an seiner absoluten Allgemeinheit festhielt. Daß wir von einem Apriori ausgehen, ist festgelegt, nicht aber notwendig, von welchem. Dieses „fallible, offene, lernfähige Apriori“ ist gesellschaftlich relational bestimmt und daher – das ist der Clou – nicht beliebig. Schnädelbach hat den Begriff des Apriori ausgeweitet; die Gefahr des haltlosen Relativismus ist gebannt durch Integration des Relativen. Fraglich ist, ob die Probleme damit gelöst sind. Auf präzisere Nachfragen entgegnete Schnädelbach jedenfalls: „Darauf traue ich mich gar nicht zu antworten“ – schade. Problem spannend, Lösung mittelmäßig: das Absolute light.

Was tun die Philosophen, wenn sie auf einem Kongreß sind? Sie rennen von einem Vortrag zum anderen: Nachdem ich am Dienstag zwischen dem Kolloquium „Technische Kommunikation“ und dem gleichzeitig stattfindednen „Wandel der Begriffe“ hin- und hergependelt bin, gerate ich am Nachmittag in einen Workshop zu „Personenidentität und Hirngewebstransplantation“ – es geht um Fragen der Ethik, der Identität der Person und der Hirnforschung. Der Raum ist spärlich besetzt, auf dem Podium sitzen sechs junge (?) Männer, die aussehen, als wären sie in der Schule gut in Mathematik gewesen. Bernt Gordijn erzählt anhand einiger logischer Formeln, daß das Problem der Personenidentität bisher falsch formuliert worden ist, und Ralf Stoecker sucht einen Nachweis für seine Intuition, daß man den Hirntod nicht mit dem Tod der Person gleichsetzen kann. Die Themen sind wichtig, aber bei ihrer Behandlung bedient man sich eines technischen Argumentebaukastens. Als der Satz fällt: „Jetzt kann man sich darüber streiten, ob alle Menschen Personen sind und alle Personen Menschen...“, geb' ich's auf und wechsele zur Sektion der „Internationalen Assoziation der Philosophinnen“. Überhaupt: die Frauen. Es gibt nicht viele davon in der Philosophie, und es gibt nicht viele auf diesem Kongreß – die Quote schwankt zwischen 3 und 30 Prozent. Immerhin haben die Philosophinnen eine eigene Sektion, und – geschlechtsspezifisches Denken hin oder her – es fällt auf, daß, während die jungen Herren über Gehirne im Tank debattieren, hier von Leiblichkeit die Rede ist und (im Beitrag von Hilge Landweer) von Problemen der Beschreibbarkeit von Gefühlen.

Philosophie ist auf ihre Weise radikal, aber zugleich auch immer konservativ. Das zeigt sich besonders an „akademischen Festakten“, wie der Ehrenpromotion von Hans-Georg Gadamer, der von 1939 bis 1947 in Leipzig Professor und kurze Zeit auch Rektor war, bevor er – mehr oder weniger gezwungen – in den Westen gehen mußte.

Am Abend ist der kleine Gewandhaussaal überfüllt, Ansprachen und Laudatio sind in ein musikalisches Rahmenprogramm gepackt. Mozart erklingt, ein paternalistisch-freundliches Porträt Gadamers für die Rektorengalerie wird enthüllt. In der Laudatio betont Rüdiger Bubner den Humanismus Gadamers und nimmt ihn – ganz am Rande – gegen ideologiekritische Bedenken in Schutz, wie sie von Theresa Orozco bezüglich Gadamers scheinbar unpolitischer Haltung in der NS-Zeit vorgebracht worden sind (ohne freilich Orozco beim Namen zu nennen): Die Vorlesungsinhalte seien in den Vierzigern dieselben gewesen wie in den Sechzigern... Die kurze Ansprache des 96jährigen Gadamer ist das Überraschendste in diesem Ritual: Er raunt dunkel vom Tröstlichen der Musik, vom Vollendeten, von der Überlegenheit seiner Freunde, seiner Frau, und richtet an sein Publikum das Wort: „Man hat es mir nicht leichtgemacht, weil man mir so viel Freude machen wollte.“

Den Höhepunkt des Kongresses bildete die „Elefantenrunde“ von Friedrich Kambartel, Bernard Williams und Jürgen Habermas am Freitag, nicht zuletzt wegen der politischen Relevanz der Themen: Es ging um Universalität und die Legitimation politisch-rechtlicher Lebensformen. Williams stellte die Formel einer basic legitimation demand vor, mit der die Legitimität von Staaten auf eine rein politische, das heißt nicht moralische Weise zu begründen wäre. Habermas schließlich versetzte sich in seinem dichten Vortrag imaginär in die Rolle eines Mitgliedes der Menschenrechtskommission. Er verteidigte die Geltung der Menschenrechte vorwiegend mit einem empirischen, nicht normativen Argument: Die Menschenrechte sind als Entwicklung des positiven Rechts eine Antwort auf die Herausforderungen moderner, säkularer Lebensbedingungen. Genau mit diesen Herausforderungen sind aber heute faktisch auch die Staaten Asiens oder des Islam konfrontiert. Dynamik – das heißt, die Philosophie steht nicht still. Was der Kongreß gezeigt hat, ist, daß aktuelle Themen aufgenommen werden und daß die Philosophen mitreden: bei Fragen der Technikentwicklung und Technikfolgenabschätzung, bei Fragen der politischen Legitimation, der Medizinethik und der Ökologie. Was jedoch den Umgang mit dem Wahren, Allgemeinen, Wohlbegründeten angeht, war keine der Antworten des Kongresses wirklich revolutionär; doch das gehört zum Spiel: Seit Anbeginn lebt die Philosophie davon, Argumente gegen die Skeptiker der Wahrheit zu finden. Und das ist gut so. Revolutionen machen die anderen. Andrea Roedig