: Warum ich wieder in die Gewerkschaft eintrete Von Mathias Greffrath
„Der Anspruch auf allgemeinverbindliche Regelung greift nicht mehr. Weder die Märkte noch die Menschen lassen sich das gefallen – beide sind verliebt in die Differenz und genötigt zur Ungleichheit.“
Rainer Hank, „FAZ“, 16.9.
Manche Leute lernen nie. Tante Molly zum Beispiel. Tante Molly war Klofrau im Kurhaus in Bad Harzburg und hatte Sinn für Distinktion. „Die Wiener Sängerknaben pinkeln ganz anders als die Schöneberger“, sagte sie, während sie Groschen stapelte, „viel vornehmer.“ Und dann ging sie in Einzelheiten.
Ich hab' noch mehr von ihr gelernt. Theorie der Kulturindustrie zum Beispiel. Tante Molly ging süchtig gern ins Kino, weil sie so gern weinte. Und jedesmal kam sie enttäuscht nach Hause. „Die Vorschau hat mehr versprochen“, sagte sie dann und strich die Tabakkrümel von der Selbstgedrehten wieder in die Kippendose, „aber man läßt sich ja immer wieder reinlegen.“ Einmal kam sie völlig verheult an. Nicht aus dem Kino. Sie hatte eine neue Arbeit im Kurhotel als Küchenhilfe. Ein neuer Geschäftsführer war gekommen. „Das ist Herr Weber, der Küchenchef, und das sind Frau Martin und Herr Schwab ...“ – der alte Chef hatte alle aus der Mannschaft vorgestellt. „Und dann“ – Tante Molly blinzelte feucht durch ihre acht Dioptrien – „dann hat er sich zu uns gedreht und gesagt: ,Und das ist der Abwasch.‘“
Nicht Lucy Moldenhauer, aus Berlin geflohen, alleinerziehende Mutter von zwei Söhnen, auch mal bessere Tage gesehen, sondern: der Abwasch. „Na ja“, hatte Tante Molly geschluchzt und die Krümel vom Wachstuch gewischt. „Na ja.“ Am nächsten Tag war sie wieder arbeiten gegangen. Und am Wochenende machte sie Überstunden, auch mit Fieber. „Der Chef hat gesagt, morgen braucht er alle“, sagte sie und stand bis Mitternacht am Ausguß.
Wegen so etwas sind Gewerkschaften gegründet worden. Nicht nur wegen Geld. Sondern weil Menschen nicht gern der Abwasch sind. Das war die Zeit vor dem Godesberger Programm, vor der Lohnfortzahlung und der Gesamtschule, und das ist lange her und sentimental dazu. Wir sind ein ganzes Stück weiter. Aber in letzter Zeit habe ich öfter an Tante Molly gedacht. Immer zum Beispiel, wenn ich an einem Supermarkt das Schild sehe: „Hausfrau für Aushilfsarbeit gesucht“. Oder kürzlich, beim Mittelstandskongreß im ICC, als der junge Mann mit den kurzen Haaren und dem roten Nacken ausrastete: Nie würde er zulassen, daß sich ein Betriebsrat zwischen ihn und seine Leute stellte, da würde er verrückt werden. Herr Rogowski, der Chef des Maschinenbauerverbandes hat ihm dann entgegnet: „Ich freue mich für Sie, wenn Sie keinen Betriebsrat brauchen, aber Sie haben ein junges Unternehmen. Wir im Maschinenbau haben unsere Geschichte, fünfzig, manchmal hundert Jahre. Und zu dieser Geschichte gehören die Gewerkschaften.“
Ich freue mich für Sie, wenn Sie keinen Betriebsrat brauchen – kein Fortschritt ist gesichert. Keine vierzehn Tage liegen zwischen dem Mercedes-Chef Schrempp, der im TV erzählte, wie einvernehmlich und in gegenseitiger Achtung man im Konzern den notwendigen Arbeitsplatzabbau vorgenommen habe, und dem Überzeugungstäter Schrempp, der jetzt den Kampf gegen die Lohnfortzahlung anführt. Und kein Jahrzehnt zwischen dem jetzigen Mercedes-Chef in São Paulo und dem letzten; für den waren die streikenden Arbeiter gelegentlich noch „die Tiere da unten“.
Im ICC, auf dem Mittelstandskongreß, hatte der Prokurist der Firma Viessmann erklärt, wie sie ihre Leute dazu gekriegt haben, drei Stunden mehr für dasselbe Geld zu arbeiten, um die neue Gasthermenproduktion im Lande zu halten. Das sei kein Pilotprojekt, sagte er, sie hätten auch Zweigwerke, wo der Organisationsgrad 30 oder 50 Prozent betrage, wo das Zugehörigkeitsgefühl – „wir sind praktisch das einzige Unternehmen vor Ort“ – nicht so entwickelt sei wie in Nordhessen. „Da geht das nicht, da machen wir das nicht.“ Schöner kann man nicht sagen, daß Sozialpartnerschaft immer nur so gut ist wie die Gewerkschaft stark. Denn keiner lernt ohne Hilfe. Und keine Erkenntnis ist gesichert. Auch nicht die andere, die der Mann von Viessmann damit verrät: Der Lohn ist keine feste Größe, sondern abhängig von historischen und moralischen Standards.
Die neue Situation ist nicht eindeutig: Es gibt Betriebe, die mit dem Rücken an der Wand stehen, und Globalisierungsgewinnler. Und es gibt jene, die nicht mehr gebraucht werden. Für die sehe er keine Lösung, außer im Bereich der niedrigqualifizierten Dienstleistungen, sagt mir der traurige Volkswirt im Unternehmerinstitut. „Es wird werden wie in Amerika.“ Er könne sich auch Schöneres vorstellen, aber die Löhne müßten gespreizt werden. „Das ist doch menschlicher, als Millionen von Menschen ganz von Arbeit auszuschließen.“
„Lob der Differenz“ heißt das dann, weniger traurig als vielmehr frisch und fröhlich, bei den Leitartiklern der FAZ. „Die Tarifordnung ist dahin“, jubelt der Chefkommentator, und dann ist kein Halten mehr: „Was würde es bedeuten, wenn der begrüßenswerte Prozeß der Individualisierung der Arbeitsverträge sozusagen auf halbem Wege steckenbleibt; das heißt, wenn nicht der einzelne Arbeitnehmer Vertragspartner wird, sondern der Betriebsrat? Welche Machtpositionen entstehen da? Wird da – aus der Sicht des einzelnen Arbeitnehmers – eine Form der Bevormundung durch eine andere abgelöst?“ (10.9.) Wird da nicht am Artikel 12 Grundgesetz genagt?
Wir haben eine lange Geschichte, aber nichts ist gesichert. „Man kann sich in Deutschland nirgendwo die Schuhe putzen lassen“, klagte ein Amerikaner im Kongreßzentrum, und die Mittelständler klatschten, „und wenn man es vorschlägt, steht sofort jemand auf und sagt: Das ist ja gegen die Menschenwürde. Solange dieser Geist in Deutschland herrscht, wird es mit dem Land nicht vorangehen.“ Amerika ist voll von Tante Mollys. Gutgelaunt, für fünf Dollar, mit schlechten Zähnen. Der Abwasch.
Wir müssen die Sache mit der Individualisierung und der Differenz noch einmal überdenken. Sie funktioniert nur, wenn wir uns auf einen Gleichheitssockel einigen, unter den niemand fallen darf. Mit dem Gehalt nicht und nicht mit der Würde. Es muß Schöneberger Sängerknaben geben und Wiener, und sie sollen alle pinkeln, wie sie wollen. Aber wieso muß es eigentlich einen Abwasch geben? Wieso sollen die einen krank werden dürfen, wenn ihr Chef ein Arschloch ist, und die anderen sollen mit Grippe ans Band? Wieso meint Herr Henkel nur die Unternehmer, wenn er sagt: „die Wirtschaft“?
Wieso bin ich eigentlich damals aus der Gewerkschaft ausgetreten? Wegen ein paar Revis und weil sie damals ein wenig dumpf nur die Lohnabhängigen vertraten und wenig Interesse freiem Journalismus zeigten. War schon in Ordnung so. Aber „Fortschritt heißt: falsche Götter vom Sockel stoßen und zu Unrecht vom Sockel Gestoßene wieder draufstellen“. Sagt Diderot.
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