■ Vorschlag: Das ist eigentlich alles: "Charms' Zwischenfälle" im Kino
Ein Mann will in seiner Wohnung einen Wasserkessel heiß machen, aber der fängt Feuer, der Mann läuft panisch umher. Es klingelt. Ein Vertreter steht vor der Tür. Der Mann knallt die Tür zu, wirft den Kessel eilends aus dem Fenster im zweiten Stock auf den Hof. Der Kessel landet vor den Füßen des Vertreters. Ein zweiter Mann hat die Szene beobachtet, macht ein ernstes Gesicht, als wolle er uns die Szene erklären, wendet sich der Kamera zu und sagt: „Äh...“
Keine Erklärung. Nur Banales im Bizarren. Und vice versa. Wer Logik will, ist hier falsch. Die Geschichte stammt von Daniil Charms, experimenteller russischer Literat, unter Stalin verfolgt, mit 37 Jahren während der deutschen Blockade in Leningrad gestorben. Im Gefängnis verhungert, wie man sagt. Man hatte ihn dort vergessen. Es gibt Geschichten, die werden immer schlimmer.
Michael Kreihsl hat Daniil Charms' „Zwischenfälle“, eine Sammlung bizarrer, knapper Alltagsepisoden, nun ja, verfilmt. Ulrich Tukur trägt zwischendrin und nicht uncharmant Charms' Episoden vor. Johannes Silberschneider spielt Charms, den Dichter, dem allerlei Mißliches passiert. Das wirkt recht unrussisch, eher wie wienerischer Existentialismus der 50er als russische Sprachexperimentatorenszenerie der 30er. In einer der wunderbarsten Szenen blickt Silberschneider gekonnt melancholisch zerknittert auf einen öden Hinterhof, in dem der Hausmeister nimmermüde fegt, saust hinunter und spricht: „Bevor man schreibt, muß man doch die Wörter kennen.“ – „Ja, schon“, murmelt der Hausmeister.
Für die Freunde des narrativen Kinos sei gesagt, daß es auch eine recht hübsche „Boy meets girl“-Geschichte gibt. Dichter trifft Mädchen beim Schlangestehen zum Brotkauf, der Rest scheitert natürlich irgendwie. Das Rendezvous demoliert ein aufdringlicher Nachbar. Einmal will der Dichter wieder mal seinen Wasserkessel auf dem Herd erwärmen. Aber die Flamme ist immer, wo der Kessel nicht ist. So siegt stets die Tücke des Objekts. Die materielle Welt ist hier objektiv so hinterhältig, wie sie den Individuen entgegentritt. Daraus wächst die Komik. Charms' Blick ist der eines erwachsenen Kindes: nicht unschuldig, sondern heillos in der Welt verstrickt, naiv, aber vor allem böse. Kafka? Vielleicht. Ideologiekritik? Njet.
Die obligatorische Frage, ob man Charms überhaupt verfilmen kann, vergißt man bei dem Film zusehends, weil Gelingen oder Scheitern als Kategorie der Weltbetrachtung suspekt, zumindest unbrauchbar erscheint. Charms' Gesetz heißt: Es geht eh schief, ist aber lustig. Oder tödlich. Oder beides. Das ist eigentlich alles. Stefan Reinecke
Filmbühne am Steinplatz: 18.15 und 22 Uhr; Hackesche Höfe 3: 17.30 und 20 Uhr, Moviemento 3: 19.45, Sa./So. auch 16.30 Uhr
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