Ein wenig Ewigkeit

Im euro-asiatischen Spiegelkabinett: „Rashomon“ wurde in Graz als Minimal-Oper uraufgeführt  ■ Von Richard Stradner

Man sieht alles doppelt in Mayako Kubos „Rashomon“, ihrem Auftragswerk für den „steirischen herbst“ an der Grazer Oper. Das klassizistische Halbrund des goldglänzenden Saales spiegelt sich, ganz in Weiß, auf der Bühne. In der Mitte dreht sich eine abstrakte Idylle aus Fels und kahlem Baumstamm. Einen harten Kontrast bilden die schwarzen Anzüge des Chores, der als „das Volk“ anfangs stimmgewaltig die Aufklärung eines Mordes einfordert. In strenger Formation umkreist er die Bühne und kesselt schließlich den Orchestergraben ein.

Nach den Worten der Komponistin vertreten die Chöre „nicht nur die Stimmen des Publikums, sondern auch die Stimmen der wichtigsten Figuren und der Wahrheit“. Es ist ein Vexierspiel, in dem das Publikum als eben jene Figuren im Gerichtssaal unter anderem von Theaterpuppen repräsentiert wird. Auch den beiden Hauptakteuren und dem Richter hat die Regie je ein Double zur Seite gestellt. Und wenn letzterer am Bühnenbalkon das Volk zur Ruhe ruft, so schallt sein kräftiger Baß (Konstantin Sfiris) vom Balkon des Auditoriums über die Köpfe der Zuhörer hinweg.

„Rashomon“ dürfte hinlänglich bekannt sein. Der Film brachte Akira Kurosawa den internationalen Durchbruch. 1951 erhielt er bei den Filmfestspielen von Venedig die Goldene Palme. Der Stoff strotzt vor Gewalt, sein Gehalt ist für die Ewigkeit gemacht.

Ein Mord und eine Vergewaltigung sind geschehen, und sieben Menschen schildern einem Untersuchungsrichter jeweils ihre Sicht der Tat. Holzfäller, Priester, Beamter und die Schwiegermutter des Ermordeten können nur Vermutungen anstellen. Die Beteiligten jedoch, der verhaftete Räuber Tajomaru, die vergewaltigte Frau Masago und ihr ermordeter Mann Takehido (aus dem Jenseits) schildern ihre divergierenden Versionen des Hergangs. Der Räuber will den Mann im Kampf, die Frau ihn aus Scham getötet haben. Der Tote selbst schließlich gibt an, Selbstmord begangen zu haben, als er mit ansehen mußte, wie willig seine Frau dem Räuber folgen wollte.

In Kubos Libretto erfährt die Geschichte, im Gegensatz zum offenen Schluß der Vorlage, ein paradoxes und auch überflüssiges moralisches Statement: In Wahrheit seien alle drei sowohl unschuldig als auch Mörder, sagt der Richter, woraufhin das Volk mit „Wir finden die Wahrheit!“-Geschrei von der Bühne stürzt. Wenn Mayako Kubos musikalisches Schauspiel etwas mit Kurosawa zu tun hat, dann den Hang zur radikalen Ausleuchtung psychischer Grenzsituationen bei gleichbleibender Distanz zum Material. Sie geht in ihren Mitteln nicht auf.

Die heute in Berlin lebende Mayako Kubo wurde 1947 in Kobe geboren, studierte in Osaka Klavier und kam 24jährig nach Wien, wo sie Komposition studierte. Es folgten Geräuschkompositionen und die Beschäftigung mit den Materialaspekten von Klangkörpern. Ab den Neunzigern läßt sie erstmals neue alte Harmonien in ihre Arbeit einfließen. Was man für gewöhnlich als Abkehr von der Avantgarde ansieht, ist für sie kein Widerspruch: „Terzen und Straßenbahngeräusche – beides ist immer da.“

Dafür gibt es in „Rashomon“ zahllose Beispiele. Die Eleganz von Sängerführung, gestischer Ausgewogenheit, die farbenprächtigen japanischen Gewänder und die sparsame, aber desto effektvoller strahlende Lichtdramaturgie stehen den geschilderten Grausamkeiten so wenig entgegen wie das klare Vibrato der Masago (Eirian Davies) den krachenden Trommelwirbeln und überhöhten Posaunenstößen der Partitur. Um so erstaunlicher, mit welcher Geschmeidigkeit dem taiwanesischen Regisseur und Choreographen Lin Hwai-min diese Szenenwechsel bei gleichbleibendem Bühnenbild gelingen. Einsam hängt Takehido im Theaterhimmel, wo er stumm der Vergewaltigung seiner Frau zusehen muß. Andere Szenen besitzen eine geradezu tänzerische Ornamentik.

Diese Mischung aus vornehmlich europäischen Musiktraditionen (von Puccini über Ligeti bis Minimal) mit fernöstlicher Theatertrance kam in Graz sehr gut an – nicht bloß als Exotismus, mehr noch als sanfte Avantgarde.