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John Major ist ein armer Mann. Bis zum Mai nächsten Jahres muß der britische Premier die Konservativen in den Wahlkampf führen. Jetzt hat er beim Parteitag der Tories die letzte Chance, die Seinen einzuschwören. Doch die Regierungspartei befindet sich in desolatem Zustand. Die Europapolitik hat sie an den Rand der Spaltung gebracht. Dazu kommt noch die Rinderseuche BSE, die den Tories in ihren Hochburgen auf dem Lande schwere Einbrüche beschert. Immerhin: Major hat es geschafft, die Partei jetz vorübergehend zu beruhigen und eine vordergründige Einheit herzustellen. Aus Bournemouth Dominic Johnson

Waffenstillstand bis zu den Wahlen

Als Sir Leon Brittan von der Weltwirtschaft spricht, erhebt sich im verdunkelten Pavilion-Theater in Bournemouth ein Nachtfalter. Er umtänzelt die erleuchtete Tribüne, als wolle er Sir Leons trockenen Zahlen ein schwungvolles Ständchen entgegensetzen. In seinem Vortrag vor den „Conservatives in Europe“, den Europhilen bei den Tories, spricht der britische EU-Handelskommissar von der Hoffnung Europa. „Die EU bewegt sich in unsere Richtung“, redet er den knapp 200 Zuhörern im viel zu großen Saal ein und beschwört die „Chancen“, wenn Großbritannien Europa als seine Zukunft begreife und „nicht nur als den Ort, wo uns die Geschichte hingetan hat“.

Brittans Stimme moduliert ständig auf und ab, als sei er immer wieder von den eigenen Äußerungen überrascht. Seine Rede ist ein einziges Flehen. Aber selbst die Kamerateams gucken lieber dem Schmetterling nach, der sich irgendwo in den dunklen Kulissen der Halle verliert.

Wenn Lord Tebbit und Bill Cash im Royal Bath Hotel in Bournemouth das Wort ergreifen, könnten hundert Nachtfalter schwirren und niemand würde hingucken. Die Versammlung der euroskeptischen „European Foundation“ ist in dem Luxusetablissement mit gut 600 Zuhörern restlos überfüllt. Draußen muß der Portier die Polizei alarmieren, um mit dem großen Andrang fertig zu werden. Drinnen beschwören führende Euroskeptiker vor einer kochenden Menge die Gefahr Europa. Sie rufen das Volk zum Aufstand gegen die Verräter, die Großbritanniens Souveränität an Brüssel verscherbeln wollen. Es gehe darum, „daß das Volk dieser Insel frei sein soll“, sagt Exminister Tebbit. Der Abgeordnete Cash verlangt, „dem britischen Volk die Wahrheit zu sagen“, und die lautet für ihn, daß „die Deutschen“ versuchen, „unsere Demokratie zu zerstören, wir steuern auf ein deutsches Europa zu“.

Es gibt keinen schärferen Kontrast auf diesem Parteitag der britischen Konservativen, als diese beiden Darbietungen verfeindeter Flügel. Die Veranstaltung der Pro- Europäer macht den Eindruck einer Pflichtübung. Eurokommissar Brittan spricht von kalten Zahlen, seine Zuhörer klatschen aus Überlegung. Tebbit und Cash reden von „Wille“ und „Seele“, von Arbeitslosigkeit und Firmenpleiten. Ihr Publikum schwelgt im Zorn und applaudiert aus warmen Herzen. Sie sehen sich nicht nur als Avantgarde im Kampf um die Freiheit ihres Landes, sondern als Mehrheit.

In den frühen 80er Jahren waren Brittan und Tebbit Kabinettskollegen unter Margaret Thatcher. Heute sind sie Erzfeinde. Brittan schimpft die Euroskeptiker „Mythenmacher“. Dafür hat Tebbit nur die schneidende Bemerkung übrig: „Beamte sollten schweigen.“

Der Streit um die Zukunft Europas hat die Tories an den Rand der Spaltung gebracht. In den letzten Jahren haben sich Regierungsmitglieder öffentlich beschimpft. Die Frage, ob Großbritannien sich dem Projekt der europäischen Einigung annähern soll oder nicht, rührt für die Konservativen an das Schicksal der Nation. Es sei „vielleicht die schwerste Entscheidung, die in diesem Land je getroffen wurde“, sagt John Major. Bill Cash ist überzeugt, das Land werde „in ein immer tieferes schwarzes Loch unter Führung einer politischen Elite im Schlepptau Deutschlands“ gezogen. Leon Brittan sieht das genau andersherum: Die Briten führen. Großbritannien sei der „Motor“ Europas, von dem der Rest des Kontinents nur lernen könne.

Die beiden Seiten bekämpfen sich spiegelbildlich. Ihre Wahrnehmung Europas ist völlig unterschiedlich, aber ihre politische Strategie ist nahezu identisch. Beide halten ihr Programm für das Rezept zum Wahlsieg. Beide sind davon überzeugt: Großbritannien ist stark, es kann viel ausrichten, wenn es nur wüßte, was es will. Beide sind unglücklich mit der offiziellen Position ihrer Partei, wonach eine Entscheidung über die britische Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion irgendwann später fallen soll. Beide schrecken davor zurück, Premierminister John Major offen zu kritisieren – zu hoch wäre der Preis, als Spalter dazustehen.

Das Ergebnis: Der Kampf findet statt, als wäre die Regierung gar nicht da. Während die Flügel sich schlagen, zelebriert der Kopf die Einheit. Die hochrangigen Exponenten beider Positionen im Kabinett, wie Finanzminister Ken Clarke für die Europhilen oder Verteidigungsminister Michael Portillo für die Eurogegner, schweigen. Gestern, zur großen Europadebatte im Plenum, saßen sie einträchtig nebeneinander und klatschten sogar an denselben Stellen. Es herrscht Waffenstillstand.

Doch der Kampf um Europa ist in Wirklichkeit ein Kampf um die Macht in der Partei. Schon Churchill, auf dessen Widerstand gegen Hitler sich die Euroskeptiker berufen, wurde 1940 nur Premierminister, indem er einen anderen Konservativen stürzte. Tebbit reklamiert die Partei inzwischen für seinen Flügel: „Es ist schlicht unmöglich, Ethos und Philosophie dieser Partei und die Doktrin der europäischen Einheit zu teilen“, sagt er. Edward Heath, der Großbritannien 1973 in die EG führte, gehört für ihn nicht mehr in die Ahnengalerie konservativer Premiers.

Aber zur Plenumsdebatte holt die Parteispitze am Mittwoch prompt den alten Heath hervor und setzt ihn demonstrativ auf das Podium. Sie ergreift Partei. „Wir können keine Anti-Europäer sein“, ruft Außenminister Malcolm Rifkind in seiner Rede und umreißt seine „moderne Vision für Europa“: eine „Partnerschaft der Nationen“, ein „offenes Europa, keine Festung Europa“, ein Europa, das sich nach Osten erweitert. Er spricht vom Empire, das „einem Viertel Menschheit gute Regierung, Rechtsstaat und wirtschaftlichen Fortschritt brachte“, und folgert von dieser britischen Erfahrung auf die besondere britische Rolle beim Aufbau eines „Europa, das auf die Welt zugeht“.

Die Botschaft: Wir haben keine Angst. Und, unausgesprochen: Nur wer keine Angst vor Europa hat, kann selbstbewußt in den Wahlkampf gegen Labour ziehen. Das Kalkül der Eurogegner, darauf zu warten, daß eine Labour- Regierung der Währungsunion beitritt und dann der glorreiche Gegenschlag der Freiheitsbewahrer folgen kann, erscheint als defätistisch. Dafür müssen die Konservativen nämlich erst einmal verlieren.

Die Europafreunde sind weniger, aber sie haben den nahenden Wahltermin zu ihren Gunsten umfunktioniert. Die Europagegner sind zahlreicher und feuriger, aber sie müssen brav sein und sich zurückhalten. Ihre Stunde, hoffen sie, kommt später.

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