: Rostock feiert einen 2:2-Sieg
Steffen Baumgarts Ausgleichstor gegen den VfB Stuttgart in letzter Minute weckt im Ostseestadion Hoffnungen auf eine Hansa-Renaissance ■ Aus Rostock Matti Lieske
„Unentschiede is wie verlore“, seufzte der Stuttgarter Fan mit der adretten rotweißen Zipfelmütze noch lange nach dem 2:2 seines Klubs bei Hansa Rostock immer wieder vor sich hin. Die gleiche Erkenntnis stand auch in den tragikumflorten Augen des VfB-Präsidenten Mayer-Vorfelder, und Ex- Interimstrainer Joachim Löw faßte das Dilemma in sehr kurze Worte: „Bitter und enttäuschend.“ Die Zeiten, als Meisterschaftsanwärter einen Punkt im Rostocker Ostseestadion als Erfolg abhakten, sind definitiv vorbei. Seit Mai hat Hansa schließlich kein Heimspiel mehr gewonnen.
Schon das Titelbild der Stadionzeitung war ein einziger Appell an die alten Zeiten, doch bitte wiederzukehren. „Jede Serie hat ein Ende“, wurde da beschworen, und Coverboy Stefan Studers Miene kündete in Einklang mit den geballten Fäusten von inbrünstiger Hoffnung. Drinnen erinnerte Präsident Diestel an berühmte Großtaten der letzten Saison.
Doch kaum war das Spiel angepfiffen, zeigte die Realität ihr häßliches Gesicht, nicht nur bei Studer, der wegen eines Nasenbeinbruchs mit Gesichtsmaske auflief und aussah wie ein hellenischer Fußsoldat, nur harmloser. Als nach wenigen Minuten ein simpler Stuttgarter Befreiungsschlag aus der eigenen Hälfte Elber allein vor Torwart Bräutigam auftauchen ließ, war klar, daß Hansa ein Problem hatte. Der VfB war in jeder Hinsicht überlegen, obwohl die Mannschaft, wie Trainer Löw betonte, „nicht gut“ spielte. Es genügte, den engagierten und raffinierten Jonathan Akpoborie lahmzulegen, nahezu sämtliche Zweikämpfe im Mittelfeld zu gewinnen und die abgefangenen Bälle möglichst rasch bei Elber, Bobic oder Balakow zu deponieren.
Fast beiläufig wurden die Torchancen herausgespielt, und mit dem 0:2 zur Pause war Rostock sehr gut bedient. Als der Stadionsprecher trotzig verkündete, der Kuchen sei noch nicht gegessen, brandete Hohngelächter auf, welches neue Nahrung erhielt, als einmal mehr der tumbe Puhdys-Song über Hansa aus den Lautsprechern dröhnte, von Stürmern schwärmte, die das Tor treffen, von Torhütern, die jeden Ball halten, und dem Präsidenten, der angeblich der schönste der Welt ist. Letzterem war die Sorge, daß im nächsten Jahr nicht mehr Hansa Rostock, sondern der FSV Zwickau Hoffnungsträger des Ostens sein wird, überdeutlich in die sorgfältig komponierte Gesichtslandschaft geschrieben.
Die 22.000 im Stadion hatten das Match längst abgeschrieben, das Vertrauen auf neue Hansa- Wunder war nach den Heimniederlagen gegen den HSV, Borussia Dortmund und 1860 München vollständig aufgebraucht. Daher benötigten die Fans in der zweiten Halbzeit eine Weile, bis sie bemerkten, daß sich etwas verändert hatte. „Wir haben uns übers Mittelfeld reindrücken lassen“, beschrieb Joachim Löw die neue Situation. Das Publikum rieb sich kurz die Augen und begann dann zaghaft, seinen Defätismus abzulegen und das eigene Team anzufeuern, das plötzlich Zweikämpfe gewann und die Fehlpaßquote drastisch zurückschraubte. Anstatt ständig hoch auf den winzigen Baumgart zu flanken, begannen Beinlich, Studer, Ziemer und vor allem der eingewechselte ägyptische Wehrflüchtling Yasser – noch während der Woche aus einem Gefängnis seiner Heimat freigekauft – zu kombinieren und zu schießen.
Dennoch wäre Stuttgart wohl davongekommen, wenn Thomas Berthold nicht solch ein sturer Hund wäre. Sein Lieblingspaß ist seit jeher der zum eigenen Keeper, und das hat er sich auch nicht nehmen lassen, als die neue Torwartregel eingeführt wurde. Ein Torwart ist aber ein Torwart, weil er nicht Fußball spielen kann, sagt Ruud Gullit, und dies stellte Stuttgarts Wohlfahrt eindrucksvoll unter Beweis, als er den 125. Berthold-Rückpaß gerade noch so traf, daß er zu Akpoborie holperte.
Dies war in der 74. Minute, aber selbst nach dem Anschlußtreffer mochte niemand an ein Mirakel glauben. Erst Baumgarts Ausgleichstor 60 Sekunden vor Schluß ließ das Ostseestadion eruptieren wie einen isländischen Vulkan, und wenigstens ein paar Minuten lang war alles wieder wie früher. „Die Mannschaft hat bewiesen, daß sie Unheimliches leisten kann“, schluchzte Hansa-Coach Frank Pagelsdorf gerührt. Unentschieden, das steht fest, ist in Rostock derzeit wie gewonnen.
VfB Stuttgart: Wohlfahrt - Schneider - Grimm, Berthold - Hagner (83. Haber), Soldo (67. Foda), Balakow, Poschner, Fournier - Elber (87. Herzog), Bobic
Zuschauer: 22.000; Tore: 0:1 Bobic (24.), 0:2 Balakow (38.), 1:2 Akpoborie (74.), 2:2 Baumgart (90.)
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