Von rechts und links die Marseillaise

Die Notablen der Front National demonstrieren in Dunkerque für die „Meinungsfreiheit“ – die „Republik“ demonstriert dagegen. Der Parlamentswahlkampf 1998 hat begonnen  ■ Aus Dunkerque Dorothea Hahn

Die Mitglieder der Front National wollen ungestört demonstrieren. „Ohne Behinderungen und Nötigungen durch Journalisten“, erklärt der Organisator am Telefon. Weil seine Organisation daran gewöhnt sei, daß die Presse „immer alles zum Schlimmsten interpretiert“, will er auch der taz-Korrespondentin kein Billet für den Hochgeschwindigkeitszug geben, der die Front National in die Küstenstadt Dunkerque, Dünkirchen, befördert. Auch wenn er ihr „nicht unbedingt“ böse Absichten unterstellt.

Macht nichts. Der TGV Nummer 7105, der am Samstag morgen um 7.22 Uhr vom Pariser Nordbahnhof abfährt, hat viele Plätze. Und nicht alle sind von der Front National gechartert. Einziger Unterschied: die Demonstrantenbillets kosten 150 Franc, andere Passagiere nach Dunkerque und zurück müssen 440 Franc zahlen.

Auf dem Anrufbeantworter „Le-Pen-Info“, der täglich neu über die Aktivitäten der Front National und ihrer Führer informiert, trägt dieser TGV den Namen „Freiheit“ – „Liberté“. Denn die Front National will in dem 250 Kilometer von Paris entfernten Dunkerque das verteidigen, was sie für Meinungsfreiheit hält. Ihre beiden Vertreter im Gemeinderat der 70.000-Einwohner-Stadt hatten im kommunalen Mitteilungsblatt eine Zeichnung veröffentlicht, auf der ein nordafrikanisch aussehender Mann in der einen Hand eine algerische Wahlberechtigung und in der anderen einen Ausweis der französischen Sozialversorgung schwenkt. „Das ist die doppelte Staatsangehörigkeit“, steht darunter. Das Gericht in Dunkerque hat dieses Bild Ende September als „Aufruf zu Haß und Rassendiskriminierung“ eingestuft und die beiden Ratsleute zu je 6 Monaten Gefängnis auf Bewährung und zu Geldstrafen verurteilt.

Im „TGV Liberté“ sitzen ein paar hundert Menschen, die wegen dieser „Gewissensjustiz“ nach Dunkerque unterwegs sind. Beim ersten Kaffee in der Zugbar begrüßen sie sich mit dem „Hallo“ von Vertrauten, die sich häufig sehen. „Psst“, zischt die Dame im kleingemusterten beige-braunen Kostüm mit dezentem Goldschmuck, „wer weiß, ob sich hier nicht Journalisten eingeschlichen haben.“ Niemand widerspricht. Die Gesprächslautstärke sinkt auf das Niveau der Fahrgeräusche.

Die Front National ist überall. Für die zweistündige Fahrt haben sich ihre Mitglieder auf alle Waggons verteilt. Sie lesen die Zeitungen des „nationalen Gedankens“, die in diesen Tagen in großer Aufmachung Portraits der „Feinde“ bringen: „Enthüllungen“ über den Chef der „Liga gegen Antisemitismus“, ein Portrait des schwarzen Vorsitzenden von „SOS-Rassismus“. Eine Liste geht um, in die sich Interessenten für eine Reise der Front National nach Polynesien eintragen können.

Die Frontisten im Zug sind vor allem Männer aller Altersgruppen. Elegant und teuer gekleidet. Dazwischen ein paar Damen fortgeschrittenen Alters, mit den Seidenschals des vornehmen Pariser Westens um den Hals, und ganz wenige junge Frauen. Zahnärzte, pensionierte Militärs, Führungskräfte internationaler Organisationen und Hausfrauen. Viele Ältere sind Gründungsmitglieder der 20 Jahre alten Front National. Für ihre Partei sind sie kreuz und quer durch Frankreich gereist. Sie haben ihrem Präsidenten Jean-Marie Le Pen in linken Hochburgen wie Toulouse zugejubelt, und in der provenzalischen Stadt Carpentras haben sie gegen den Verdacht demonstriert, Mitglieder ihrer Partei hätten dort einen jüdischen Friedhof geschändet. Handtellergroße Aufkleber mit dem monarchistischen Wappen von Paris und winzig kleine silberne Anstecknadeln mit der Trikolore in Flammenform am Revers mancher Reisenden weisen ihre politischen Sympathien aus.

Die Arbeiterklasse, die der Front National bei den Präsidentschaftswahlen im vergangenen Jahr millionenfach die Stimme gab, ist in dem TGV-Liberté kaum vertreten. Abgesehen von dem knappen Dutzend junger Männer, mit kräftigen Oberkörpern unter dunkelblauen Windjacken, die unablässig im Zug auf- und abtigern. Mit regelmäßigem Muskeltraining und Karate bereitet die Front National sie auf ihre Einsätze vor. Monatlich sind es im Schnitt fünf – in Wahlkampfzeiten mehr.

Als sie den Zug verlassen, ziehen die jungen Männer Ausweise des Front National eigenen Ordnungsdienstes – mit Fotos und Nummern, aber ohne Namen – aus den Jackentaschen und streifen schwarze Lederhandschuhe über. Die Notablen aus dem Zug ziehen sich blauweißrote Schärpen über Brust und Schulter. Als er den Bahnhof verläßt, wehen französische Fahnen über dem kleinen Demonstrationszug und Transparente mit der Aufschrift „Le Pen im Visier – Franzosen als Opfer“. Ein paar örtliche Mitstreiter der Front National haben sie bereitgehalten.

„Es lebe die Freiheit“, skandieren die Frontisten bei der Ankunft vor dem Absperrgitter am Markplatz der flämischen Kleinstadt Dunkerque. „Es lebe die Republik“ skandiert es von der gegenüberliegenden Platzseite zurück. Zwischen den beiden Demonstrationen liegen 80 Meter Platz. Dutzende von behelmten Polizisten dazwischen. Über beiden Platzseiten wehen französische Fahnen. In beiden ersten Reihen hinter den Absperrgittern beziehen Männer mit Trikolore-Schärpen Position.

„Allons enfants de la patrie“, stimmen die Frontisten an. „Allons enfants de la patrie“, hallt es von der gegenüberliegenden Platzseite zurück. Die Gegner der Front National sind an diesem Samstag morgen etwas zahlreicher. Und sie haben eine Verstärkeranlage. Ihre Marseillaise ist lauter.

Die Seite der Republik legt anschließend ein Stück algerische Rai-Musik über die Lautsprecher. Die Demonstranten, darunter zahlreiche junge Frauen, tanzen. „Das ist eine andere Vorstellung von Frankreich“, erklärt ein Gemischtwarenhändler über die Front National auf der anderen Platzseite, „eine andere Kultur beinahe“. Seine Vorfahren waren Spanier und Portugiesen, wie oft in diesem nordöstlichen Eck Frankreichs. Die Großeltern des Vorarbeiters, der neben dem Gemischtwarenhändler steht, sind ureingeborene Flamen. Der aus Lille zu der Demonstration angereiste Postarbeiter ist auf Martinique geboren. Seine Ururgroßeltern kamen „irgendwo aus Afrika – genauer weiß man das bei uns nicht“.

Die drei Männer sind zu der Demonstration gekommen, weil sie keine andere Wahl hatten. „Ich kann doch nicht einfach die Rassisten hier ohne Gegenrede demonstrieren lassen“, erklärt der Gemischtwarenhändler. „Wie sonst soll ich meinen Nachbarn von der Front National zeigen, daß ich mit ihnen nicht einverstanden bin. Die verstecken sich ja sonst immer“, sagt der Vorarbeiter.

Auch der sozialistische Bürgermeister der Stadt, Michel Delebarre, einst ein Minister von Mitterrand, ist zu der Gegendemonstration gekommen. Dunkerques Antirassisten werfen ihm vor, daß er die Front National „machiavellistisch“ einsetze, um die Rechten zu spalten und selbst die Stadt zu regieren. Als Hauptverantwortlicher des kommunalen Mitteilungsblattes hätte der Bürgermeister die Veröffentlichung der Front-National-Zeichnung überhaupt nicht zulassen dürfen, kritisiert ein langjähriger kommunistischer Ratsherr der Stadt.

Für seine Bewohner ist Dunkerque eine „ganz gewöhnliche Stadt“. Besonders schön finden sie es im Karneval, wenn sogar aus dem Ausland Touristen anreisen. Auch die Probleme Dunkerques – die Arbeitslosigkeit und die Drogen – erscheinen ihnen nicht außergewöhnlich. Allerdings hat sich die Situation dramatisch verändert, seit 1987 seine Werften geschlossen wurden – knapp 7.000 Arbeitsplätze gingen verloren. Seit die Schwerindustrie weg ist, machen auch weniger Containerschiffe halt im Hafen der Stadt.

Die Ratsherren, die an diesem Samstag auf der Seite der Republik stehen und die bereits im Vorwahlkampf für die Parlamentswahlen im Jahr 1998 sind, spüren, daß sich rund um Dunkerque die Stimmung verschlechtert. „Wenn sich an der Arbeitslosigkeit nichts ändert, gewinnt die Front National weit mehr als bislang 10 Prozent bei uns“; sagt der Kommunist.

Während drüben der Rai ertönt, hat sich der frontistische Ratsherr von Dunkerque, Philippe Eymery, hinter ein transparentes Rednerpult mit der Aufschrift „die Franzosen zuerst“ auf die oberste Treppenstufe vor dem Gericht gestellt, das ihn vor ein paar Tagen verurteilt hat. Auf den Stufen sind die Schärpenträger aufgereiht. „Wir sind respektable Bürger dieser Stadt“, sagt Eymery unter lautem Beifall, „und wir fordern das Recht auf freie Meinungsäußerung“. Sein Nachredner von der Front National benötigt fünf Minuten, um die Namen der bekanntesten französischen Politiker von Konservativen und Sozialisten aufzuzählen, die wegen Korruption vor Gericht stehen.

Zwei Stunden nach der Ankunft sitzt die Delegation wieder im Zug zurück nach Paris. Ein alter Frontist redet laut über Hitler: „Wenn der nicht so verrückt gewesen wäre, Rußland zu überfallen, hätte man mit dem zusammenarbeiten können.“ Niemand widerspricht. „Ein voller Erfolg“, diktiert ein Sprecher der Front National der ausländischen Journalistin. „Wir hätten mehr sein können“, gibt einer zu, der 1940 von den Deutschen zur Arbeit bei der IG-Farben gezwungen worden ist. Er gehört „schon immer“ zur Front National. Und er nimmt es sich heraus, deutlich zu sein. Aber er ist siegesgewiß: „Bei den nächsten Wahlen, wird die Front National noch viel, viel stärker.“