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„Spielregeln“ müssen noch festgelegt werden

■ Betriebsräte arbeiten in den nächsten Wochen Feinheiten des Tarifabschlusses aus. Zusätzliche Arbeitskräfte sind häufig ungelernt und müssen äußerst flexibel sein

Die Betriebsräte der Einzelhandelsgeschäfte haben in den nächsten zwei Wochen alle Hände voll zu tun. Nachdem der Tarifabschluß für die 90.000 Beschäftigten des Einzelhandels vergangenes Wochenende unter Dach und Fach gebracht wurde, werden jetzt die speziellen Betriebsvereinbarungen für die einzelnen Unternehmen ausgehandelt. Für die späteren Öffnungszeiten montags bis freitags nach 18.30 Uhr und samstags nach 14 Uhr müssen in Betrieben mit über zehn Beschäftigten nach 18.30 Uhr Zeitzuschläge von 20 Prozent gezahlt werden. Bei 90 Minuten Arbeit am Abend werden also 18 Minuten auf einem „Zeitkonto“ gutgeschrieben, die später zusammenhängend als freie Stunden oder Tage genommen werden können. Ausgenommen von den Sonderschichten sind Beschäftigte, die Kinder unter zwölf Jahren haben oder pflegebedürftige Angehörige betreuen. Betriebe mit unter zehn Beschäftigten müssen keine Zeitzuschläge zahlen, sie können bis zum Juli nächsten Jahres die neuen Öffnungszeiten „ausprobieren“.

Manfred Birkhahn, Vorsitzender der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (HBV), beurteilt den Tarifabschluß als ein Ergebnis, „für das man sich nicht schämen muß“. Der Abschluß gehe seiner Meinung nach sogar „quer zum Zeitgeist des allgemeinen Trends der Deregulierung“. Jedoch komme es jetzt darauf an, was die Betriebsräte daraus machten. Im KaDeWe mit etwa 2.500 Beschäftigten, davon über 70 Prozent Frauen, wird es deshalb „recht lange dauern“, bis ein zufriedenstellendes Modell für alle gefunden wird, sagt die Betriebsratsvorsitzende Christel Hünefeld. Für die ersten Monate werde es deshalb eine Übergangsregelung geben, bis alle „Feinheiten“ austariert sind. Ob es durch die neuen Ladenöffnungszeiten jedoch zu dauerhaften Neueinstellungen kommt, ist sich Hünefeld unsicher. Im KaDeWe würden jedoch in nächster Zeit „auf alle Fälle“ neue Kräfte eingestellt. „Das kann aber auch etwas mit unserer Neueröffnung und der vergrößerten Verkaufsfläche zu tun haben“, vermutet Hünefeld. Oder mit dem Weihnachtsgeschäft, das für viele Einzelhändler im Jahr den größten Umsatz bringt.

In den rund 200 Kaiser's-Supermärkten werden nach Angaben des Vorstands der Personalabteilung Willy Schellen ebenfalls in den nächsten Tagen „die Spielregeln festgelegt“. Zukünftig sollen alle Kaiser's-Filialen bis 20 Uhr offen haben, egal ob im großen Verbrauchermarkt am Theodor- Heuss-Platz oder in einem kleinen Ableger in der Kreuzberger Falckensteinstraße. Der Personalaufwand ist für Lebensmittelgeschäfte besonders hoch. Denn welchen Umsatz- und Imageeffekt hätte das späte Einkaufen um kurz vor 20 Uhr, wenn zwar noch die Kassen geöffnet sind, die Fleisch- und Käsetheke aber aufgrund fehlenden Personals schon verwaist sind? Schellen wird deshalb in allen Filialen mindestens ein bis zwei neue MitarbeiterInnen einsetzen, ungelernte. Die sollen dem Fachpersonal „zuarbeiten“, zum Beispiel Regale mit Konserven, Brot und Milchprodukten auffüllen. Die Teilzeitkräfte müßten allerdings „sehr flexibel“ sein, das heißt, sie werden nur bei Bedarf eingesetzt.

In kleineren Betrieben werden häufig nicht einmal zusätzliche Kräfte eingestellt, sondern die neuen Öffnungszeiten „auf die wenigen Mitarbeiter“ abgewälzt. Deshalb findet Franz Rocholl die neue Regelung einfach „beschissen“. „Wir werden jetzt viele Leerzeiten haben“, ärgert sich der Teppichverkäufer. Der sowieso schon lange Arbeitstag werde noch länger, und ohne vernünftigen Ruheraum sei das sehr anstrengend. Das Teppichgeschäft, in dem er arbeitet, ist in der Wilmersdorfer Straße, also der „Sogwirkung“ der großen Kaufhäuser ausgesetzt. „Wir mußten einfach mitziehen.“ Julia Naumann

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