: Im Klammergriff der dunklen Geschichte
Jugend auf der Suche nach Wahrheit hinter alten Mythen: Mit seinem biographisch gefärbten Roman „Reading in the Dark“ ist dem Iren Seamus Deane ein überzeugendes Debüt als Romancier des Nordirlandkonflikts gelungen ■ Von Eberhard Bort
„Ein großer Geist fühlt sich im Dunkel wohl“, meinte einst Frank Wedekind im „Stein der Weisen“. Im übertragenen Sinne könnte das Zitat auch auf Seamus Deane und seinen Erstlingsroman „Reading in the Dark“ zutreffen, eine der wichtigsten Neuerscheinungen dieses Herbstes.
Autobiographisch gefärbt – der Erzähler ist wie Deane selbst 1940 in Derry geboren und wächst dort auf –, klingt schon im ersten Kapitel, „Stairs, February 1945“, der Ton des Romans an: „Auf der Treppe war eine Stille, klar und deutlich.“ Ein Geist treibt offensichtlich im Haus sein Unwesen, eine dunkle Präsenz. Geschichten werden dem Jungen erzählt von Feen und wundersamen Erlebnissen, von Verwandten, die verschwunden sind, von Bekannten, denen ihre Begegnung mit der „Anderswelt“ den Kopf verdreht hat. Mythische Landschaften werden evoziert, wie der Grianan of Aileach, jenes vorzeitliche Steinfort nördlich von Derry. Aber die Geschichte dieser Jugend spielt auch vor dem Hintergrund der Spannungen in Derry zwischen nationalistischer, katholischer Bevölkerung, zu der Deanes Familie gehört, und der loyalistischen Autorität, verkörpert in Sergeant Burke.
Es ist ein Erinnerungsbuch, die genaue Rekonstruktion einer Jugend im Zeichen der Suche nach Wahrheit, des Versuchs, das Dunkel zu durchdringen, das die Familie und ihre Geschichte im Klammergriff zu haben scheint. Zug um Zug gelingt es Deanes Erzähler, das Puzzle zusammenzusetzen, sammelt er partielle Wahrheiten, bis er sich zum Schluß zusammenreimen kann, wie all diese mysteriösen Feengeschichten mit der Familientragödie verwoben sind, bis er tatsächlich „das Dunkel lesen“ kann. Das auf der Familie wie ein Fluch lastende Geheimnis hat, wie sich herauskristallisiert, seinen Ursprung im irischen Bürgerkrieg zu Beginn der zwanziger Jahre, nach der Teilung der Insel, die das überwiegend katholische Derry von seinem natürlichen Hinterland, der Grafschaft Donegal, abschnitt.
Doch mit jeder Erkenntnis stellen sich auch immer neue Fragen. Soll er das Schweigen brechen, soll er gegenüber Mutter und Vater, gegenüber dem Bruder, zu erkennen geben, daß, was sie ein Leben lang als Wahrheit zu verbergen suchten, nur die halbe Wahrheit ist? Was gebietet die Liebe, und was ist Verrat?
„Nordirland hatte eine grausame Geburt.“ Mit subtilen erzählerischen Mitteln beschwört Deane den Horror und den langen Schatten des Bürgerkriegs, die „bad years“ der frühen zwanziger Jahre. Das Skelett im Schrank nimmt immer klarere Umrisse an: Die Exekution eines „Informers“, innerhalb der eigenen Familie? Doch der angebliche „Informer“ war kein Verräter gewesen, es war ein anderer, einer, der sich gerade anschickt, in die Familie einzuheiraten. Wie Mehltau legt sich Bitterkeit und Schweigen über die Ereignisse. Die Wunden können nicht heilen.
„Reading in the Dark“ ist ein Roman über die kleinen Leute in einem abgelegenen Winkel Irlands vor dem Hintergrund einer gewaltsamen Geschichte, und, wie die Mutter einmal sagt: „Leute in kleinen Orten machen große Fehler. Sie sind zwar nicht größer als die von anderen Leute, es gibt nur zuwenig Platz für große Fehler in kleinen Orten.“
McIlhenny, der in den zwanziger Jahren über Nacht in die USA verschwand, hatte einst bemerkt: „Menschen vom Lande sind seltsam... Sie nehmen alles persönlich, selbst Zufälle. Wenn es ein Unglück gab, finden sie die Schuld immer irgendwo, bei irgendjemandem, und oft genug bei sich selbst.“
Deanes Roman ist ein beeindruckendes Buch über das irische Grenzland, in einer klaren und unverbrauchten Sprache verfaßt, die von der Erfahrung des Lyrikers Deane zeugt: Da stimmt jedes Wort, von der noch naiven Neugier des Fünfjährigen bis zu den komplexeren Überlegungen des Heranwachsenden. Nicht zu vergessen: Die Sozialisationsgeschichte ist auch voller Ironie und Komik, von den sexuellen Aufklärungsbemühungen der „Christian Brothers“ bis zum Kapitel „Math's Class“, einem kleinen Juwel der irischen „comic tradition“, in dem sogar Deanes Schulkamerad Seamus Heaney kurz in Erscheinung tritt.
Gegen Ende des Romans löst sich der Erzählstrang aus der Jugendperspektive. Wir erreichen die frühen siebziger Jahre und die aktuellen „Troubles“. Hier findet sich denn auch eine Passage, die den fragilen und schwierigen „Friedensprozeß“ in Nordirland zu kommentieren scheint. Sergeant Burke, alt und müde geworden, signalisiert, daß die alten Geschichten doch endlich abgeschlossen werden sollten. Nur wie? Die Erwiderung auf Burke spiegelt sicher auch die Wut und den Ärger des Autors selbst über die Unbeweglichkeit und Unnachgiebigkeit der Unionisten: „Es ist großartig, wenn man den Opfern des Krieges sagt, sie sollen mit ihrer Klage aufhören. Was hätten sie auch tun sollen? Sich etwa dafür entschuldigen, daß sie je protestiert haben und zurückkehren. Zurückkehren in Arbeitslosigkeit, Wahlbetrug und die Prügel durch einen Polizeiapparat, der sich dieses Landes angenommen hatte, nachdem es von Richtern und Anwälten eingesperrt worden war, die selbst besser für ihre Teufeleien hätten verurteilt werden müssen, lebenslang. Und zwar für all die Leiden, die sie Menschen angetan haben, und für all die Leben, die durch sie ruiniert wurden!“
Burke hat darauf keine Antwort, doch der Erzähler konzediert, daß es auch für ihn hart sei, sich aus den überkommenen Denkschablonen zu lösen.
Nach seinen Professorenkollegen Richard Kearney („Sam's Fall“), Colbert Kearney („The Consequence“) und Robert Welch („The Kilcolman Notebook“) hat auch Seamus Deane seinen ersten Roman vorgelegt. Deane lehrt derzeit als Literaturprofessor an der University of Notre Dame in den USA. Bekannt geworden ist er als Lyriker, als Mitbegründer und führender Kopf der Field Day Theatre Company, als Herausgeber der „Field Day Anthology of Irish Writing“ (1992) und Verfasser einer irischen Literaturgeschichte, doch mit diesem Roman hat er ein unübersehbares Zeichen gesetzt. Er ragt heraus aus den Neuerscheinungen dieses Herbstes. Und es sollte mich nicht wundern, wenn er dafür dieses Jahr den prestigeträchtigen Booker Prize zuerkannt bekäme.
Seamus Deane: „Reading in the Dark“. Jonathan Cape, London 1996, 233 S., £ 13.99
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