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Leichen in der Seine

Noch 35 Jahre nach einer blutigen Demonstration in Paris wird ein kritischer Artikel in der algerischen Zeitung „Liberté“ zensiert  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Viele wissen es, aber nur wenige sprechen davon, wenn sich in Paris der Jahrestag der blutigen Demonstration jährt, bei der im Oktober 1961 Dutzende Algerier ums Leben kamen. Die Toten – offiziell waren es drei, inoffiziell 200 – schwammen in den folgenden Tagen, teils mit zusammengebundenen Händen und Füßen, in der Seine. Die Verantwortlichen für das Massaker sind bis heute nicht verfolgt worden.

„Als die Seine voller Leichen war“, überschrieb die algerische Tageszeitung Liberté am vergangenen Donnerstag einen Artikel – 35 Jahre nach den blutigen Vorfällen. Der Untertitel präzisierte: „Die Repression war von demjenigen angeordnet worden, der für die Nazis die Judendeportationen organisiert hatte.“ Gemeint war der damalige Pariser Polizeipräfekt Maurice Papon.

Die Leser in Frankreich bekamen den Artikel nie zu Gesicht. Denn als die entsprechende Ausgabe von Liberté am Samstag ankam, wurde sie sofort aus dem Verkehr gezogen. Der französische Grenzschutz Diccileg beschlagnahmte die Zeitungspakete am Flughafen von Lyon, wo die algerischen Zeitungen angeliefert werden, seit die direkte Flugverbindung zwischen Algier und Paris aus Sicherheitsgründen storniert wurde, und brachte sie ins Innenministerium.

Eine offizielle Begründung für die Beschlagnahmung gibt es nicht. Liberté, die mit rund 100.000 Exemplaren größte Tageszeitung Algeriens, die der kabylischen Demokratiebewegung nahesteht, wurde lediglich von ihrem französischen Vertriebsunternehmen über den Vorfall informiert. Die französischsprachige Liberté trifft die Zensur zum ersten Mal. Zwei andere arabische Zeitungen, die beide in London hergestellt werden, sind in Frankreich aus Gründen der „öffentlichen Ordnung“ seit dem Golfkrieg verboten: Al Dustur (Die Verfassung) und El Arab, die beide Sympathien mit dem libyschen und irakischen Regime zeigen.

Die unabhängige Organisation „Reporters sans frontières“ vermutet, daß neben der Erinnerung an das Massaker vor allem der Liberté-Hinweis auf den damaligen Polizeichef Papon die französischen Behörden irritiert hat. Der Mann ist ein alter Gaullist und machte auch nach der Demonstration weiter Karriere, bis er 1978 als Haushaltsminister seinen letzten Spitzenposten hatte.

Heute läuft ein Ermittlungsverfahren wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ gegen den inzwischen 86jährigen. Allerdings nicht wegen der blutigen Repression von 1961, sondern wegen eines weit länger zurückliegenden Kapitels. Papon wird vorgeworfen, als Generalsekretär der Präfektur von Bordeaux zwischen 1942 und 1944 die Deportation von über 1.400 Juden organisiert zu haben, darunter 230 Kindern.

Der Journalist Hakim Sadek beschäftigt sich in dem (der taz vorliegenden) inkriminierten Artikel mit den Kontinuitäten in Papons Leben. So fragt er z.B., ob die Pariser Polizei 1961 noch „vom Nazi- Denken beseelt“ gewesen sei. Quelle und Aufhänger für Hakim Sadeks Analyse ist eine als Buch erschienene Rekonstruktion des Massakers vom 17. Oktober 1961, für die der Autor Jean-Luc Einaud Hunderte von Opfern und Beobachtern befragt hat. Sein Buch „Die Schlacht von Paris“ („La bataille de Paris“) ist bis heute das aufschlußreichste Werk über jene verbotene Demonstration von 1961 geblieben, zu der die algerische Befreiungsbewegung FLN aufgerufen hatte, um gegen das nächtliche Ausgangsverbot für Muslime in Frankreich zu protestieren.

Rund 30.000 Menschen folgten am 17. Oktober dem Aufruf. Die Polizei unter Präfekt Papon mobilisierte 10.000 Beamte und schlug gnadenlos zu: 11.500 Personen wurden festgenommen, Dutzende, teils zu Tode geknüppelte, teils erschossene Menschen wurden in den Tagen darauf in der Seine, aber auch in dem Pariser Kanal Saint-Martin angeschwemmt. Papon erklärte gegenüber dem Pariser Stadtrat ungerührt, die Polizei habe „getan, was sie tun mußte“. Noch in seiner 1988 erschienen Autobiographie spricht er von lediglich drei Toten, darunter einem Franzosen, die damals der Durchsetzung des französischen Rechts zum Opfer gefallen seien. 35 Jahre nach jener blutig niedergeschlagenen Demonstration hat sich jetzt die Organisation „Reporters sans frontières“ entschieden, den inkriminierten Artikel von Hakim Sadek in ihrer Rubrik „Zensur“ im Internet zu veröffentlichen.

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