: Leben nach der Revolution
■ Wie Werder meinen Glauben an die Zukunft erschütterte / Ufos sind doch real
Vom Frankfurter MultiKulti Dany Cohn-Bendit stammte in grauer Vorzeit die Äußerung, daß er nach der Revolution gern Sportreporter werden würde. Man kann nur hoffen, daß der Kapitalismus noch lange fortbestehen wird, weil einem dann solche Abende zur besten Freimarktszeit wie im Weserstadion erspart bleiben. Tabellenfünfter gegen Tabellendritten als Topspiel der Woche und die Pressetribüne ist voll, und die Massen kommen wie noch nie gegen Leverkusen, und dann gibt es ja auch noch genügend Zündstoff aus der Pokalbegegnung vom August mit Rot gegen Labbadia und Baiano und Elfmeterkrimi. Aber als dann die 90 Minuten vorbei sind, fragt man sich, warum die Kopfschmerzen nicht stärker sind und überlegt ernsthaft, ob die hochdotierten Ballkünstler auf den holprigen, schlammigen Fußballwiesen der Pauliner Marsch überhaupt irgendeine Chance gegen ein Spitzenteam der Alternativkicker in der Wilden Liga Bremen hätten.
Das Spiel geht los, mit einer Hektik wie lange nicht mehr. Olli haut beim Rauslaufen über den Ball, im Gegensatz zu früheren Jahren aber ohne größeren Schaden. Schuuuuulz, seit Wochen wieder Chef im Bremer Luftraum, versenkt den Ball im Nachthimmel, und alle Besucher des Riesenrades werden sich schockiert bei Schreinemakers live melden, weil UFOs doch real sind. Nach einer Viertelstunde kommt der Neueinkauf Flo, dessen Bewegungsablauf etwas vom Charme des Hawaii-Iron-Man hat, erstmals an den Ball und schon ist er ihn wieder los. Nach 20 Minuten erster gefährlicher Kopfball des Norwegers. Aber er geht knapp übers eigene Tor. Die erste halbe Stunde vergeht, Nettospielzeit 5 Minuten, weil Einwurf, Foul, Eckball, Abseits und Abstoß eben Zeit kosten.
Die taktische Devise beider Teams geht auf: Nach höchstens drei Ballberührungen das Leder zum Gegner füßeln, schlagen oder köpfeln, denn sonst schlafen die Sat1-Ran-Reporter ein, weil sie ihre Datenbank mit gewonnenen und verlorenen Kopfbällen und Zweikämpfen und Verzweiflungstaten nicht mehr füttern können. Die haben nämlich extra ein Laptop mit Maustableau an ihrem Platz, aber langsam machen sich auch bei ihnen erste Sehnenscheidenentzündungen bemerkbar. Auch das Werder-Publikum wird langsam nervös, auf der Südtribüne übrigens im Gegensatz zur Ostkurve leicht daran zu erkennen, daß Fan-Accessoirs hier hauptsächlich in Form von Anstecknadeln und Krawatten getragen werden.
Nur der Daum bleibt seelenruhig sitzen. Und dann springt er auf, weil ein Pfiff ertönt, und keiner im weiten Rund weiß, warum. Und als das Herzl seinen 9. Treffer markiert, denken alle: Jetzt geht's los. Geht aber nicht. Nur der Christoph Daum geht los, und zwar auf den Schiedsrichterassistenten, das war früher der Linienrichter, und der richtete die Fahne wegen Handspiels im Strafraum, und die Regeln sehen dann einen Elfer vor. 1:0 stand es dann an der Videoleinwand, und dann ertönte der zweite Pfiff, der die Massen begeisterte: Halbzeit. Als die Herren Spieler wieder den Rasen betreten, setzen sich die Höhepunkte fort. Viktor Skripnik ist nicht Marco Bode und kriegt den Höhepunkt nicht hin, Jens Todt's Anspiel ist fair, weil zum Gegner, und selbst Magic Dieter senst ein ums andere Mal ins Leere. Und nach 70 Minuten schreit der Daum ein „Jaaa“ mit schmerzverzerrtem Gesicht gen Südtribüne, weil seine Jungs den Ausgleich erzielten, und alle finden: Verdient.
Zum Abpfiff rettet Werder ein schmeichelhaftes Unentschieden, und Dixie gratuliert dem Daum, weil der eine junge Elf begeistern kann, und Daum gratuliert Dixie, weil er eine tolle Mannschaft aufgebaut hat und doch bleiben viele Fragen auf der Pressekonferenz offen.
Warum sieht der vom Werder-Willi angekündigte Eilts aus wie Herzog und spricht auch noch Wiener Dialekt ? Und ist Rudi Völler immer noch heimlich ein Römer, weil er Wolter mit „Ahh, Tomaso“ begrüßte? Wann platzt Leverkusens Manager Calmund? Wo studierte Havard Flo? Wenn, nach Daum, bei Bayer die Chemie stimmt, wo wird dann entsorgt? Warum fragt die Presse nach Wiedeners Auswechslung, obwohl er eingewechselt wurde? Will Daum die neue Ostkurve schleifen (1987, es war der erste Auftritt des damaligen Kölner Cheftrainers im Weserstadion, wird er mit dem Satz „Wenn es sein muß, reißen wir Euch hier das Weserstadion ab“ zitiert ). Übrigens: Cohn-Bendit hatte für die Zeit danach einen zweiten Wunsch: Der Tour-de-France hinterherfahren. Ich bin dabei.
Michael Pelle Pelster, Roter Stern Bremen, Wilde Liga
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