: Heiße Debatte über die Grenzen der Gendiagnostik
■ Mit den „Zehn Nürnberger Thesen“ wollen kritische Ärzte den Forscherdrang zügeln
Das Kongreßmotto „Medizin und Gewissen“ geht auf den Gießener Professor Horst Eberhard Richter zurück. Als der diesen Vorschlag machte, konnte er nicht ahnen, daß das Thema 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß durch den heftigen Streit um die europäische Bioethik-Konvention eine besondere Brisanz bekommen sollte: Mit der umstrittenen Bioethik-Konvention, die der Europarat dieses Jahr noch verabschieden will, soll einer der Kernpunkte des Nürnberger Ärztekodex außer Kraft gesetzt werden.
Als informed consent ist die Bestimmung, daß Forschungen an Patienten nur dann zulässig sind, wenn dieser zuvor eine „informierte Zustimmung“ zu den Experimenten gegeben hat, in internationales Medizinrecht übernommen worden. Die Zustimmung muß „freiwillig“ und „unbeeinflußt“ von Gewalt, Druck oder List zustande gekommen sein. Die Bioethik-Konvention sieht vor, daß künftig Ausnahmen davon zulässig sind. Danach dürften Forschungsvorhaben auch an nicht „zustimmungsfähigen“ Patienten durchgeführt werden, selbst wenn der Betroffene keinen Vorteil davon hat. Vor allem Patienten mit Altersdemenz sollten dem Zugriff von Forschern ausgesetzt werden.
Allein den Gedanken daran bezeichnete Ellis Huber, Präsident der Berliner Ärztekammer, in Nürnberg als „frevelhaft“. Mit den „Zehn Nürnberger Thesen“ sollte der Kongreß das Begehren der Medizinforscher nach Ausweitung der Forschungsfreiheit zurückweisen. „Das gesundheitliche Wohl des Individuums ist für uns Ärztinnen und Ärzte ein unbedingt zu schützendes Gut“, heißt es in dem Thesenpapier. Auf harsche Kritik stieß die Formulierung: Ist der Patient „nicht einwilligungsfähig, gilt für uns die Zustimmung eines informierten gesetzlichen Vertreters“. Denn genau das sieht auch die Bioethik-Konvention vor.
Bei einer Entscheidung zwischen Fortschritt der Medizin und den Schutzrechten des einzelnen müsse letzteres den Vorrang haben, meinte Jay Katz, Psychiatrie- Professor aus den USA. Das ist eine der Lehren, die aus den Verbrechen in den KZs gezogen wurden. Auch nach 1945 sind Versuche an Patienten durchgeführt worden, ohne daß diese darüber informiert wurden. Erinnert wurde an Strahlenexperimente in den USA, die in den letzten Jahren bekannt wurden.
Problematisiert wurden auf dem Kongreß auch Themen wie die Möglichkeiten und Grenzen der Gendiagnostik, die Risiken von Gentherapien, der Transplantations- und Reproduktionsmedizin. In vielen Veranstaltungen wurde deutlich, daß es keine einfachen Antworten auf die neuen medizinischen Möglichkeiten geben wird. Besonders bei kritischen Beiträgen zur Gentechnik gab es kontroverse Meinungen. „Man darf doch bei der Gentechnik nicht alles in einen Topf werfen, es gibt doch auch positive Ergebnisse – Medikamente zum Beispiel“, formulierte es eine Teilnehmerin.
Am Beispiel der genetischen Diagnostik wurde das Dilemma deutlich, zwischen zwei Entscheidungsmöglichkeiten zu stehen: wenn etwa ein Ehepaar ein Kind erwartet und einen genetischen Test machen lassen möchte. Bei Nachweis einer Erbkrankheit, darüber ist sich der Arzt im klaren, wird es zu einer Abtreibung kommen. Die Anerkennung der Entscheidungsfreiheit läßt nur die Option offen, den Test auch durchzuführen – wohl wissend, daß er damit eine eugenische Maßnahme unterstützt, daß er mit dafür verantwortlich ist zu entscheiden, welches Kind zur Welt kommen darf. Wolfgang Löhr, Nürnberg
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