piwik no script img

Hysterischer Jubel aus der Düsternis

■ Bei der Aufführung von Beethovens „Missa Solemnis“ im Dom spielte nur der HERR nicht mit

Am Sonntag abend gelangte im Bremer Dom Ludwig van Beethovens späte „Missa Solemnis“ mit Domchor, den Gesangssolisten Jutta Bucelius-Dehn, Waltraut Hoffman-Mucher, Rufus Müller und Gotthold Schwarz und dem Ensemble für Alte Musik Berlin zur Aufführung. Der HERR allerdings, die Hauptperson dieses Werkes, stellte mit dem üblichen Bremer Wetter keinen angemessenen Rahmen bereit. Leichter Dauerregen bei mäßigen Temperaturen und frischen Winden aus West bis Südwest veranlassen den Bremer Bürger eher, im gemütlichem Heim den selbstgebackenen Apfelkuchen in Frieden und im Kreise seiner Lieben zu verzehren.

Solcher Art Frieden ist es allerdings nicht, den Beethoven mit seinem „Dona nobis pacem“ einfordert. Stünde der HERR dieser Messe aufgeschlossener gegenüber, er hätte vom Sturm zerfetzte Wolkentürme über den Bremer Himmel gejagt, hätte sie grell von flammender Sonne ausgeleuchtet und so Bedrohung und die utopische Aussicht auf Wetterbesserung gemischt. Denn Beethovens hochdramatische Messe ist Protokoll und Resultat eines heftigen Kampfes des Meisters um die Reinigung von zwei durch ihre institutionelle Praxis arg in Verruf geratenen Ideologien und um die produktive Vereinigung des humanen Kerns beider. Christus und Danton, der heilige Franz und Rousseau, bürgerliche Revolution und Christentum und schließlich die Trauer um das von beiden nicht eingelöste Versprechen, aufrecht leben zu können, sind das Thema dieses Werkes, das sich nur mühsam hinter seinem Titel „Feierliche Messe“ verstecken kann.

Denn Beethoven läßt düster resignierte Bilder voller Schmerz entstehen, von denen sich der Meister mit exaltiertem, hysterischem Jubel befreit. Harte Brocken, wie das majestätische Credo, arbeitet Beethoven mit weit aufgesplittertem, oft schmerzhaft grellem Orchestersatz klein, über dem sich ein schwer durchschaubares Geflecht von Chorstimmen erhebt. Trauer Zweifel und Wut aber münden ein in gelassene Zuversicht auf ein menschenwürdiges Leben.

Langsam und verhalten ging Dirigent Wolfgang Helbich das Kyrie eleison an. Doch wer nach diesem Einstieg in Beethovens Kosmos erwartete, die Interpretation fühle sich dem grätzigen Titanen, dem wild ringendem Genie verpflichtet, wurde durch unerwartet zügiges, fließendes Tempo überrascht, als nicht mehr der HERR, sondern dessen offenbar umgänglicherer Sohn um Erbarmen angegangen wird.

Diese Zweiteilung der Tempi zog sich durch die gesamte Anlage der Interpretation des Werkes. Die von rastloser Dynamik geprägten, sich durch immer neue Ansätze verkomplizierenden, jeden musikalischen Höhepunkt durch neue überbieten wollende Teile des Gloria und des Credo büßten durch rasante Tempi etwas an Brisanz ein.

Umso gelassener und intensiver erklangen die vom Sturm umtosten Zonen depressiver Resignation.

Das mit historischen Instrumenten ausgestattete Berliner Ensemble brachte unerwartete Farben ins musikalische Geschehen. Die tiefere Stimmung raubte manch heikler Passage die Schärfe.

So mußte sich der Sopran nicht am Rande des körperlichen Zusammenbruchs in unmenschliche Höhen hochhangeln. Die lyrischen und tief melancholischen Passagen leuchteten in warmem, von rauher Patina überzogenem Glanz.

Holzbläserpassagen artikulierten sich leicht näselnd in klarer Kontur - fast unwirklich mattschwarz die tiefen Streicher. Wenn Beethoven jedoch wütet und aus dem Vollen schöpft, verlor sich der orchestrale Part zuweilen im halligen Kirchenschiff, wenn man nicht, wie der taube Meister zum Hörrohr griff, um die differenziert dargebotene Klangstruktur hören zu können.

Der Bremer Domchor erwies sich an seinem 140jährigen Geburtstag erneut als wunderbar ausgeglichener Klangkörper. Hoch oben waltete unangestrengt und glockenrein der Sopran, mächtig grummelte in Keller der Baß. Atemberaubend, in präziser Artikulation und doch in tiefer meditativer Versenkung ertönt Beethovens depressiv gefärbte Trauer um den Sohn des HERRn, die auch Trauer um Pontius Pilatus mitschwingen läßt.

Dem Geburtstagskind, seinem Kantor, dem homogenen Solistenquartett, in dem Jutta Bucelius-Dehn stimmliche Glanzpunkte setzte und den Instrumentalisten dankte das Dompublikum herzlich. In voller Bestzung ist es allerdings nicht erschienenen..

Mario Nitsche

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen