: Zum Aus-der-Haut-Fahren
■ Mutig: George Taboris „Weisman und Rotgesicht“ in Bremerhaven / Duell der Worte zwischen Jude und Indianer liefern sich Duell in Worten
Der eine möchte wortwörtlich aus der Haut fahren. Der andere weiß, daß ihn seine unter die Haut gefahrene Geschichte niemals verlassen wird. Mitten in der menschenleeren Wüste treffen sie sich. Sie: Eine Rothaut und ein Bleichgesicht; ein junger Indianer und ein alter Jude. Ihre Begegnung: Ein Duell in Worten; ein Kampf um die Frage, wer von beiden die schwerere Last trägt. Das Ganze: Ein Gleichnis von George Tabori namens „Weisman und Rotgesicht“, das jetzt im Großen Haus des Bremerhavener Stadttheaters zu sehen ist.
George Tabori zeigt in seinem Stück die exemplarische Begegnung von zwei Ausgegrenzten, von zwei Opfern, die sich nur durch einen Schleier von Vorurteilen und Klischees wahrnehmen und sich dabei gegenseitig zu Tätern machen. Für Joe Rotgesicht, den Indianer, gehört der „plattfüßige Judenarsch“ zur Seite der weißen Sieger. Für den vor dem Holocaust entkommenen Emigranten Arnold Weisman ist „Big Chief Fußpilz“ ein „krankes Bubele, das sich nicht entschließen kann, ob er rot, weiß oder blau ist“.
Weisman ist auf dem Weg nach New York, um die Urne seiner verstorbenen Frau zu überführen. Er wird von seiner mongoloiden Tochter Ruth begleitet. Sie sitzen in der Wüste fest, da taucht der Indianer auf. Er will sich nach altem Ritual zum Sterben legen. Diesen Auftakt zu Taboris „jüdischem Western“ inszeniert der junge polnische Regisseur Janusz Kica mit allen Zutaten eines überzeichneten Genres. Die Bühne (Jürgen Lancier) ist eine pappig-wackelige Filmkulisse: Eine bröckelnde Mauer, ein erst stechend blauer, dann roter Himmel, trockenes Wüstengras und - der Joke - ein Hydrant.
Joe, der Indianer (Guido Fuchs), ist ein Pierre-Winnetou-Brice-Verschnitt. Arnold Weisman (Gerd Staiger) ist - ganz in schwarz ein witzelnder Jude, der das Unglück mit Kalauern zudeckt. Aber sobald sie zum Kampf um den ersten Rang unter den Opfern antreten und sich ihre Geschichten und Erinnerungen mit scharfen Zungen um die Ohren schlagen, ändert sich die Stimmung auf der Bühne. Weisman und Rotgesicht entkleiden sich - symbolisch und ganz real. Am Ende liegt Weisman alt und nackt auf der Bühne, hat all seine Schlechtigkeit gebeichtet und folgt seiner Frau in den Tod. Rotgesicht dagegen legt sich Weismans Kleider an und kehrt mit Ruth an seiner Seite als Indianer und Jude zugleich ins Leben zurück.
Kicas Inszenierung braucht Zeit, bis sie für Taboris Balanceakt aus makabrem Humor und poetischer Zartheit den richtigen Ton findet. Am Anfang drohen die Klischees in Klamauk unterzugehen, aber dann ist es Gerd Staiger, der seiner Rolle des alten Juden als Mischung aus Nathan und Shylock Leben gibt. Seine Entkleidung ist ein Akt der Befreiung, dem Guido Fuchs als Indianer-Joe kaum folgen kann: Er bleibt zu sehr die Rothaut aus dem Winnetou-Land. Ein kleines Bühnenwunder vollbringt jedoch Ingrid Müller-Farny. Sie spielt die behinderte Ruth immer am Rand des Chargenhaften. Allein sie stürzt nicht, und so wird das „Mongolenzombie“ zur anrührenden und kaputten Heiligen. Großer Beifall für eine mutige und im ganzen gelungene Inszenierung. Hans Happel
Weitere Vorstellungen am 1., 14. und 19.11. in BHV im Großen Haus
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