■ SURFBRETT
: Bangemanns Revolution

Papier ist geduldig, heißt es, und das gilt natürlich ebenso für seine Fortsetzung mit elektronischen Mitteln. Papiere über Papiere sind zu finden unter der Adresse http://www.ispo.cec.be/. Dahinter versteckt sich das „Information Society Project Office“ in Brüssel, eine Kreation der Europäischen Union, deren erster Schritt zur Tat stets die Eröffnung eines neuen Büros ist. Im Unterschied zu allen anderen ist dieses hier aber auch öffentlich zugänglich. Ein Besuch im World Wide Web lohnt sich, denn kein Mensch kann sich ja sonst vorstellen, was alles an Papieren in so einem Brüsseler Büro verstaubt. Soeben ist ein Grünbuch verabschiedet worden, dabei ist das Weißbuch noch gar nicht richtig gelesen, jenes Werk über die Zukunft Europas, mit dem sich der Sozialist Delors verabschiedet hat. Es handelt sich in jedem Fall um Literatur, die alle gängigen Definitionen freier Kunst erfüllt: Sie hat keinen praktischen Nutzen und ist von großer stilistischer Geschlossenheit weitab vom Massengeschmack.

Selbst Martin Bangemann verfällt in diesem Elfeinbeinturm auf Worte, die er in seinem ersten Bonner Leben nicht gebraucht hat. „Revolution“ zum Beispiel. Erinnern wir uns an Martin Bangemann, den deutschen Wirtschaftsminister, der schon beim Anblick von mehr als drei Gewerkschaftsmitgliedern rot sah. Alles vorbei und vergessen. Der Bangemann- Report, auf dem ISPO-Server in voller Länge abrufbar, versucht nichts weniger, als eine Revolution zu beschreien; das Wort jedenfalls kommt in fast jedem Abschnitt vor. Gemeint ist die Revolution der Computernetze, was Bangemanns semantische Idiosynkrasien gemildert haben mag. Eine erstaunliche Lektüre bleibt der Text dennoch. Nicht nur die „Bürger Europas“ sollen von den Netzen profitieren, auch die „politischen Entscheidungsstrukturen“ werden umgestürzt. Man wird einwenden, daß Martin Bangemann diesen Text ja nicht selbst geschrieben habe. Das ist richtig, gilt aber auch für seine Reden als Bonner Minister und kann nur ein Vorwurf sein für Leute mit übermäßig konservativen Vorstellungen über die Autorenindividualität. Wie seine Sammlung von Links beweist, will das Büro für die Informationsgesellschaft die revolutionäre Forderung nach kollektiver Literatur erfüllen. Die meisten Dokumente sind auch als Textdateien auf den Hausrechner ladbar. Dort kann man sie ergänzen und nach Belieben umformulieren. Irgendwelche politischen Folgen sind allerdings für diese fortgeschrittenen Versionen sowenig zu befürchten wie für die Originale. niklaus@taz.de