■ Die österreichischen Sozialisten sind auf dem Weg ins politische Nichts. Rückblick auf ein verblassendes Wunder: Abschiedsgesänge vom Roten Wien
Gerade saßen wir beisammen, Wiener Sozis, alte und ältere, junge und jüngere, und gründeten den Arbeitskreis „Gibt es noch Sozialismus, wenn nicht, warum trotzdem?“ Zur Einstimmung sangen wir „So flieg du flatternde, du rote Fahne“, das Lied der Wiener Jungsozialisten, 1928. Dazu Rotwein. Da läutet das Telefon. Die taz will wissen, was los ist mit der SPÖ und einem gewissen Vranitzky. Nach diesem jüngsten Tag in Österreich (Wahltag fürs EU-Parlament und den Wiener Gemeinderat).
Na schön. Das ist los: Die österreichische Sozialdemokratie lieferte das weltweit hervorragende Beispiel für den rasanten Aufstieg rosaroter Politik und Kultur. Jetzt liefert sie das Beispiel ebenso rasanten Abstiegs. „Österreich ist eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält“ (Friedrich Hebbel).
Das geheimnisvolle Österreich produzierte einen der stärksten, ältesten, dauerhaftesten Sozialismen Europas. Österreich produzierte frühen und dauerhaften Antisemitismus und Faschismus. Österreich produzierte Hitler. In Österreich wurden die ersten Schüsse gegen den Faschismus gefeuert (Arbeiteraufstand, 1934). Jetzt produzieren wir gerade Haider, einen der intelligentesten Rechtsaußen Europas, jüngste Wahlergebnisse an die dreißig Prozent. (Die Deutschen sollen sich nicht aufpudeln; der gleiche Prozentsatz an Rechten steckt unsichtbar innerhalb der CDU/CSU; aber dort ist er vielleicht besser aufgehoben.)
Ja, was soll mir zu Franz Vranitzky einfallen? Auch schon zehn Jahre auf dem Kanzlerthron, davon die längste Zeit mit hohen Sympathiewerten. Sie sind immer noch höher als die seiner Partei und aller seiner politischen Gegner; auch jetzt, nach seiner schmetternden Wahlniederlage.
Vranitzky ist der Mann, zu dem einem nix einfällt, außer daß man ihn lassen muß, weil's keinen anderen gibt. Das ist der instinktive Konsens, zu dem die post-katastrophalen SPÖ-Gremien soeben gelangten. Ja, es gab ein bißchen Aufstand der Parteilinken, grad noch oberhalb der mikroskopischen Wahrnehmungsgrenze.
„Wir sind der Zukunft getreue Kämpfer, wir sind die Arbeiter von Wien“, heißt es im eingangs intonierten Lied. Die Zukunft ist düster, die Treue gering, der Kampf am lebhaftesten um verbliebene Posten und Privilegien, und die Arbeiter, ja die Arbeiter. Sie sind bei der Arbeiterpartei. Das ist die FPÖ des Jörg Haider, deren Wählermasse (seit längerem über eine Million) zu etwa 50 Prozent aus Arbeitern besteht, ein weit höherer Prozentsatz als bei den SPÖ- Wählern. So sitzen die roten Hiobs auf dem Boden und kratzen sich mit den Scherben ihre Schwären.
Legenden, Legenden. Die österreichische Sozialdemokratie war ein Weltwunder. Rosarote Bundeskanzler regierten das Land seit über einem Vierteljahrhundert; was ist dagegen der legendäre Kohl mit seinen 14 Amtsjahren? Der legendäre Kreisky regierte allein 13 Jahre, davon 12 mit absoluter Mehrheit; was ist dagegen der legendäre Willy Brandt?
In Wien regierten die Sozialdemokraten seit über einem Dreivierteljahrhundert mit absoluter Mehrheit (seit 1919, mit 12 Jahren Zwangspause durch Faschismus, einheimischen und nazistischen).
Schon zu Kaisers Zeiten blühte die „k.u.k. Sozialdemokratie“. Zu Zeiten der Ersten Republik war das „Rote Wien“ das global bestaunte Beispiel einer fortschrittlichen Gegenkultur mit ihren Wohnbauten, sozialen Einrichtungen, Arbeitersymphoniekonzerten etc., etc.
In der Zweiten Republik Österreich, ein Geschöpf – so geht die Legende – der gemeinsam in Hitlers KZ gesessenen Sozialdemokraten und Christdemokraten, entwickelte die Sozialdemokratie andere zivilisatorische Errungenschaften, nicht rote Sonderkultur, sondern großkoalitionäre Staatskultur. Wohnung, Job, Ausbildung, Karriere – du sollst Vater (SPÖ) oder Mutter (ÖVP) ehren, auf daß es dir wohlergehe in Österreich. Kein Austro-Spatz fiel vom Austro-Dach, ohne daß die Götter (SPÖ) gemeinsam mit den Göttern (ÖVP) entschieden, ob er hinauffiel oder hinab.
Ach, auch das ist jetzt Nostalgie, auch wenn's davon keine so schönen Lieder zu singen gibt wie von der roten Sonderkultur.
Das eigentlich Neue ist nun der Einbruch des Brutalkapitalismus in die geschützte Werkstätte Österreich. Eine logische Folge des EU-Beitritts, für den die Österreicher mit Zweidrittelmehrheit volksabstimmten, in einer Stimmung aus optimistischer Neugier und fatalistischem Was-bleibt- uns-denn-übrig. Aber daß es die prominenten Sozis waren, die ihre Leute mit schwindelhafter Propaganda in die EU trieben, das müssen sie jetzt büßen. Und fragen sich jetzt selber, mit Köpfen, auf die der Hammer der Wahlkatastrophe sauste, was es denn war, was sie gar so begeisterte für die EU, die größte Konzentration und Zentralisation des Kapitals in der an solchen nicht armen europäischen Geschichte.
Und wenn's die Sozis nicht wissen, weil sie keine Sozis mehr sind, so weiß es Karl, der alte Maulwurf. Die Sozialdemokratie, weiß Marx, ist der „ideelle Gesamtkapitalist“, kapitalistischer als die Kapitalisten selber. Historisch hatte das seinen guten Sinn, solange nämlich ein funktionierender Kapitalismus rosarote Dividenden abwarf, Arbeitsplätze, Sozialstaat, Teilhabe an der politischen Macht.
Ob der Kapitalismus in Österreich funktionierte, drüber können Kapitalisten unter sich streiten, daß er obige Dividende abwarf, dafür war Österreich ein hervorragendes Exempel. Ebendrum ist Österreich jetzt ein ebenso hervorragendes Exempel für den Absturz des Sozialismus.
Jetzt stehen die Sozis da, vis à vis de rien, mit verschränkten Armen, und schupfen die Schultern. Ja, was glaubt ihr denn, liebe Genossinnen und Genossen, ihr Naivlinge, was sollen wir denn machen? So sind die Zeiten, so ist die EU, so ist die Globalisierung.
Gewiß machen die Sozialdemokraten jetzt allerhand Pläne. Aber sie glauben selber nicht so recht dran; und das spüren die Leute. (Denn die Sozis verschweigen: Im High-Tech-Kapitalismus werden 4/5 der Menschen gar nicht mehr gebraucht als Arbeitende. Kein Chip steht still, wenn unser lahmer Arm es will.)
Aus dieser Bredouille wird der Sozialismus erst wieder auferstehen, wenn der große Kladderadatsch kommt, der Selbstmord jener mörderischen Wirtschaftsform, die die Menschen nicht mehr nährt, sondern wegwirft.
Ja, am eingangs erwähnten Wiener Abend sangen wir noch manches schöne rote Kampfeslied. Günther Nenning
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