„Papa, dein Haar brennt!“

Von den Konfessionen eines englischen Opiumessers zum Kampfkiffen unter Kindern: Alexander Kupfers „Kleine Kulturgeschichte des Rausches“ ist ein seriöses Buch, das auf aktuelle Bezüge allerdings verzichtet  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Unbemerkt von vielen werden heute vermutlich weit mehr Drogen konsumiert als zu den Hochzeiten der Hippieära. Von Alk und legalen Tabletten ganz zu schweigen. Daß Hasch und Ecstasytabletten ziemlich in sind, dürfte bekannt sein, doch auch LSD oder Psilocybinpilze sind sehr trendy. Die Zahl der beschlagnahmten LSD-Trips hat sich zwischen 1994 und 1995 verdoppelt, mittlerweile gibt es an meinem Kiosk drei Hochglanzhanfzeitschriften, Jointpapers sowieso, und West wirbt mit Kiffern.

Die Art und Weise, in der Drogen nicht nur von gefährdeten Jugendlichen konsumiert werden, hat sich allerdings verändert. Den antibürgerlichen Befreiungsgestus der Hippies findet man nur noch selten: bei ein paar durchgedrehten LSD-Therapeuten, den Genossen von der Hanfpartei oder dem Hanfbuchautor Jack Herer, der mit Hanf „die Welt retten“ möchte. Der Rest konsumiert eher ideologiefrei, nicht unbedingt staatsfeindlich, und im Gegensatz zu den gefährdeten Musterproblemjugendlichen, die stolz im Fernsehen verkünden, sie würden an manchen Samstagen auch schon mal 23 Ecstasypillen nebst Speed und Haschisch zu sich nehmen, gibt es auch einige, die versuchen, mit Achtel- oder Sechzehntel- LSD-Trips ihre wochenendliche Erlebnisfähigkeit zu steigern.

Einerseits ist die Antidrogenpropaganda so ideologisch verbohrt wie eh und je, andererseits räumt selbst die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung inzwischen ein, daß legale Suchtmittel in ihrem „individuellen und gesellschaftlichen Schaden (...) von gleicher oder größerer Bedeutung“ sind wie illegale Drogen. So verwundert es nicht, daß gerade jetzt, 30 Jahre nach dem dreibändigen Standardwerk von Rudolf Gelpke („Vom Rausch in Orient und Okzident“), der sich in den Siebzigern „wegmachte“, wie 68er sagen, eine ehrgeizige „Kleine Kulturgeschichte des Rausches“ erscheint. In dem angesichts des Themas mit knapp 400 Seiten nicht allzu umfangreichen Buch, dem ein zweiter Band über „die innere Anatomie des Rausches“ folgen soll, geht der Literaturwissenschaftler Alexander Kupfer allerdings auf Nummer Sicher.

In den einleitenden Kapiteln behandelt er knapp die Bedeutung von Rauschmitteln (inklusive Alkohol) im Altertum, im Hauptteil zeichnet er die Drogenbiographien prominenter westeuropäischer und amerikanischer Rauschpoeten von der Romantik bis zur Gegenwart nach und skizziert die gesellschaftlichen Umstände ihres Konsums. Am Ende gibt es ein bißchen Popgeschichte und vorsichtige Einwände gegen die herrschende Drogenverbotspolitik. Daß der Rauschmittelkonsum eine „anthropologische Grundkonstante“ ist, ist jedoch genausowenig überraschend wie die stattliche Zahl prominenter Drogenkonsumenten (mehr oder weniger alle berühmten Dichter) oder die Erkenntnis, daß die Drogensucht der Gesundheit oft nicht förderlich ist.

Am interessantesten sind die Kapitel über Rauschdrogen im 18. Jahrhundert, wobei Kupfer sich auf die englische Romantik konzentriert, deren subjektivistisches Weltverständnis sich bestens mit den Abenteuern des Rausches verband. Der Rausch kam dabei zwei gegensätzlichen Bedürfnissen entgegen: der Sehnsucht nach Aufhebung der als entfremdend empfundenen Grenzen des bürgerlichen Subjekts und der Suche nach individuellen Wahrheiten. Jenseits der Kontrollmechanismen des Wachbewußtseins, in Traum, Somnambulimus, Wahnsinn und Rausch, vermutete man die sozusagen wirkliche Wirklichkeit.

Als Prototyp des romantischen Rauschdichters führt Kupfer Thomas de Quincey an, den ersten Schriftsteller, der seine Drogenerfahrungen in den legendären „Confessions of an English Opiumeater“ (1821) thematisierte und 40 Jahre seines Lebens süchtig war. Nicht ohne Theorie: Ähnlich wie Freud in seinem Wunderblockaufsatz, verglich de Quincey das Bewußtsein mit einem Palimpsest, also einem jener wiedergefundenen Pergamente, deren jüngste Beschriftung ältere Texte überdeckt. Drogen wie Laudanum galten ihm als Schlüssel, diese Aufzeichnungen zu verstehen, und je mehr sich der Dichter seinen drogeninduzierten Assoziationen überließ, desto deutlicher schienen sie ihm. Wie Jean Paul – der allerdings Alkohol bevorzugte – registrierte de Quincey jede Abschweifung und verwendete sie als Mosaikstein im „Rahmen eines Ganzen“, das er auf dem Weg zum „absoluten Bewußtsein“ erreichen wollte.

Abgesehen von einer eher scheußlichen Sucht führte seine durchaus moderne Methode – man denke an die Psychoanalyse und die „écriture automatique“ des Surrealismus – zur unendlichen Textproduktion. Wenn de Quincey einen Raum mit Papier vollgemüllt hatte, zog er in den nächsten. „Zwischen all dem Papier wurde er wegen seines nachlässigen Umgangs mit Streichhölzern und Kerzen zu einer rechten Gefahr. ,Fünf oder sechs‘ Prosastücke, die als ,krönender Abschluß‘ einer Neuausgabe der ,Confessions‘ konzipiert waren, verbrannten. ,Es gab kaum Abende‘, erinnert sich seine Tochter, ,an denen er nicht etwas in Brand setzte, wobei es gewöhnlich vorkam, daß jemand von seiner Arbeit oder Lektüre aufsah, um beiläufig zu sagen: ,Papa, dein Haar brennt‘, worauf nur die ruhige Antwort erfolgte: ,Ach wirklich, meine Liebe?‘ und eine Hand die Glut ausdrückte.“

Unendliche Assoziationsketten, Synästhesien und der Versuch, alles in einem zu denken, kennzeichnen einen Großteil der Drogenliteratur, die, so vermutet Kupfer, am besten gelang, wenn die Rauschdichter gerade eine Drogenpause machten. Manche Texte dagegen, die unter Drogeneinfluß geschrieben wurden, wirken recht brachial dekonstruktivistisch.

1882 etwa schrieb William James, einer der bedeutendsten Vertreter des Golden Age der amerikanischen Philosophie, in der Zeitschrift Mind eine vernichtende Hegel-Kritik, die er am Ende seines Textes durch eine eigenartige Schlußbemerkung relativierte: „Seit der obige Artikel geschrieben wurde, haben mich einige Beobachtungen über die Auswirkungen des Lachgasrausches (...) die Stärke und Schwäche von Hegels Philosophie besser als je zuvor verstehen lassen. (...) Das erste Resultat war, daß in mir mit einer unbeschreiblichen Macht die Überzeugung erschallte, daß der Hegelismus letztendlich doch recht habe und daß die bis dahin tiefsten Überzeugungen meines Intellekts falsch seien.“

Betroffen wurde die Schlußbemerkung zur Kenntnis genommen, zumal James' im Lachgasrausch gemachten Notizen recht befremdlich sind: „What's mistake but a kind of take?“ (Was ist Mißgriff anders als eine Art von Griff), heißt es etwa oder „What's nausea but a kind of -ausea“ (Was ist Schwindel anders als eine Art von -windel?), wobei sich James der Schwierigkeit, seine Erfahrungen sprachlich zu vermitteln, durchaus bewußt war: „Wenn sich die Nüchternheit wieder einstellt, verblaßt der Eindruck der Erkenntnis, und man bleibt zurück mit einem leeren Starren auf einige unzusammenhängende Wörter und Sätze.“

Während de Quincey zum Prototyp des Drogendichters wurde, lieferte einer seiner Verehrer, der amerikanische Transzendentalist Ralph Waldo Emerson (1803 bis 1882), das Grundmuster einer Drogenkritik, die den Rausch durchaus anerkannte, allein die Mittel seiner Erzeugung verurteilte. „Der Geist der Welt, die große, ruhige Präsenz des Schöpfers offenbart sich nicht der Hexerei mit Opium oder Wein. (...) Das ist keine Inspiration, was wir den Rauschmitteln verdanken, sondern eine falsche Erregung und Gefühlswallung.“

Auffällig ist, wie oft sich die Berichte von Rauscherlebnissen unabhängig von den verwendeten Drogen gleichen. E.T.A. Hoffmanns alkoholbefeuerte Visionen erinnern an die Opiumträume anderer Dichter, und die abenteuerlichen Haschischräusche, die Baudelaire und seine Freunde actionreich beschrieben haben, erinnern eher an LSD-Trips, was wohl auch daran liegt, daß man im „Club des Hachichiens“ Haschisch nicht geraucht, sondern als Konfitüre gegessen hatte und die Dosen die heute üblichen um ein Mehrfaches übertrafen.

Die „Kleine Kulturgeschichte des Rausches“ ist sicher ein seriöses und gut lesbares Handbuch, selbst wenn man Kupfers Eurozentrismus bemängeln könnte (im Sinne der Nato: auch Osteuropa bleibt unberücksichtigt) oder daß er den individualistischen Drogenkonsum prominenter Dichter viel zu sehr in den Vordergrund stellt. Zudem wird die Rolle der Pharmaindustrie bei der Dogenverbotspolitik ebenso vernachlässigt wie die gesamte bislang nicht kanonisierte Literatur von den Schriften des anarchistischen Psychoanalytikers Otto Groß bis zu Bernward Vespers Buch „Die Reise“.

Wer sich Modernität erhofft, wird enttäuscht sein. Naheliegende aktuelle Verbindungen – etwa zwischen dem Diskurs über Computer, virtuelle Realitäten, dem Verschwinden des Körpers und Drogenwelten — stellt Kupfer nicht her. Ist vielleicht auch nicht so einfach. In einem seiner letzten Interviews, in dem es um neue Technologien, Telematik, Cloning und andere „kolossale Dinge“ ging, kam Villèm Flusser auch eher in unvermittelter Plötzlichkeit auf Drogen zu sprechen: „Und Drogen. Wissen Sie, Drogen sind doch etwas Herrliches, nicht? Haben Sie sich das mal überlegt, daß die Leute gegen die Drogen angehen, ohne sich zu überlegen, daß sie damit gegen den Buddhismus angehen.“

Alexander Kupfer: „Göttliche Gifte – Kleine Kulturgeschichte des Rausches seit dem Garten Eden“. Verlag J.B. Metzler, 1996, 386 Seiten 49,80 DM