Tanz als Befreiung

■ Die Bremerin Heide Marie Voigt rückt mit Schubert Tabuthemen zu Leibe und geht unkonventionellen Weg

Eine durchsichtige Folie bedeckt den Boden. Darunter liegt regungslos, eingesponnen wie in einen Kokon, eine in Schwarz gekleidete Frau. Ganz leise kommt sie in Bewegung, vorsichtig, tastend. Als müsse sie den engen Raum, der ihr in der Luftblase der Folie bleibt, erkunden. Sie windet sich, dreht sich, will sich aufrichten, doch da ist die transparente Mauer, die sie nicht durchbrechen kann. Beklemmende, hilflose Versuche der Befreiung. Gleichzeitig ist eine Tonband-Stimme zu hören, die aus der Ferne Erinnerungen zurückbringt: Erinnerungenan das Ende des zweiten Weltkrieges und an den Soldaten-Vater, der als „Trümmerhaufen“ zurückgekehrt, seine kleine Tochter mißbraucht.

„Als der Krieg zu Ende ging, war ich zwei Jahre alt. Mit dem Wort –Zusammenbruch– verbinde ich das psychische Zusammenbrechen meines Vaters. Und wie Kinder sind, sie –helfen– den Eltern da durch, bis in den sexuellen Bereich“, sagt Heide Marie Voigt. Die Tänzerin hat diese schmerzhaften Erfahrungen in einer Choreographie zu Franz Schubert–s Quartett „Der Tod und das Mädchen“ bearbeitet. Als Heide Marie Voigt das gleichnamige Stück von Ariel Dorfmann sah – in dem eine Frau ihren Folterer wiederzuerkennen glaubt – wollte sie damit ihre eigene Geschichte tänzerisch erzählen. Mit dem Bremer Regisseur Jürgen Müller-Othzen entwickelte die 54jährige vier Sequenzen, in denen sie den langen Heilungs-Prozeß einer Mißbrauch-Überlebenden zeigt. Sie tanzt sich langsam, manchmal quälend langsam, aus der Erstarrung des Opfers heraus, findet sich und ihre Lebendigkeit wieder, um dann am Ende, so Voigt, „wie neu geboren dem Tod entgegenzugehen“. Wie erstarrt fühlte sich Heide Marie Voigt als sie mit Ende 30 dem Mißbrauch auf die Spur kam, und entdeckte den Ausdruckstanz als „Überlebensmittel“. „Tanzen heißt für mich, in den Körper zu kommen, aus dem ich quasi ausgestiegen war“, sagt die kleine, zierliche Frau. Doch daß ihre Kunst eine Art Therapie sei, das hört sie nicht gerne. Schließlich habe auch Kafka seine Texte aus einer Lebensnotwendigkeit heraus geschrieben, so die Tänzerin, die eigentlich gelernte Lehrerin ist.

Vier Stücke hat sie in den letzten fünf Jahren erarbeitet, zu Themen, die aus ihrer jeweiligen Lebenssituation erwachsen sind. Einen Durchbruch erlebte sie mit dem Tanz-Solo um die zwei biblischen Frauenfiguren „Washti- Ester“, mit dem sie bundesweit über 40 Mal aufgetreten ist. Diese Engagements nutzte sie als Chance, professionell zu arbeiten – auch unabhängig von der freien Tanzszene. Ihre Anträge in der Kulturbehörde wurden bisher abgelehnt oder nicht beantwortet. „Sehr verletzend“ sei man mit ihr verfahren, erzählt Heide Marie Voigt, die auch mit einer kleinen Subvention zufrieden wäre. „Aber die Behörde erkennt meine künstlerische Arbeit nicht an. Da heißt es: Wieso, Sie sind doch Lehrerin, Sie bekommen nichts.“ Auch ihre Bewerbung als freie Tänzerin für den Bremer Tanzherbst wurde abgelehnt. Trotz allem geht die 54jährige ihren unkonventionellen Weg weiter. Beate Hoffmann

„Der Tod und das Mädchen“, Sonntag, 17.11., um 20 Uhr in der Kirche St. Magni, Unter den Linden 24, Bremen-Nord