■ „Lieber Herr Oberleutnant!“
: Keine Linderung

„Ihre Frau hat mich angerufen und gesagt, daß Sie schwer krank sind und ob ich nicht zu Ihnen kommen könnte. Leider bin auch ich schwer krank und weiß nicht, wie lange ich noch lebe. Daher der Brief. Ich habe Ihnen bei unserem Treffen seinerzeit gesagt, daß mich meine Desertion moralisch nie gereut hat, wohl aber, daß ich Sie und vielleicht auch noch andere Kameraden in diese Gefahr gebracht habe. Daß ich die deutsche Wehrmacht verlassen habe, war sicher Rechtens, aber diese Wehrmacht besteht ja aus Menschen, aus Kameraden, die genauso wie ich in diesen Krieg geschickt worden sind. (...) Mir ist klar, daß ich Sie, Herr Oberleutnant, damals verraten habe und daß Ihr schweres körperliches Leid alleine mir zuschulde kommt. Ich habe oft mein Gehirn zermartert, ob ich auch dann abgehauen wäre, wenn ich gewußt hätte, daß es Sie erwischt. Ich kann es bis heute nicht sagen. Bewußt und erinnerlich ist mir aber, daß ich nach den Nachrichten über die KZs jeden haßte, der auch nur noch einen Finger für diesen Staat rührte. Und insoferne glaube ich auch, daß ich damals auch Sie eher haßte und nicht als Menschen ansah, dem man den Rücken freihalten muß, weil er sich mutig zum Schutze seiner Kompanie auf Patrouille begibt. Dennoch glaube ich, daß wir beide recht hatten. Dieser Krieg war vom größten Verbrecher dieses Jahrhunderts ausgelöst worden. (...)

Jedenfalls hat mir unser seinerzeitiges Gespräch sehr viel gegeben. Ich habe erkannt, daß es bei solch schwierigen Entscheidungen nie nur eine Wahrheit gibt. (...) Der Unterschied zwischen Ihnen, der ohne Treubruch überlebt hat, und mir, der ich Sie dem Leid preisgegeben hatte, ist der, daß Sie von Ihrem Schicksal erzählen können, ich es aber noch heute auch vor meinen engsten Freunden geheimhalten muß. Denn auch wenn man den Krieg verweigert hat, um die unschuldigen Menschen in den KZs schneller befreien zu lassen, gilt dies als böser Verrat. Und so liegt meine Tat bis heute eingekapselt in meinem Inneren und erfährt keine Linderung durch Gespräche mit anderen Menschen – außer mit Ihnen. (...)“ Karl L.

Die beiden Briefe wurden mir 1988 für die Vorbereitung eines Buches „Opfer im Abseits“ von der Witwe des Max F. zur Verfügung gestellt (Werner Raith).