: Die Flegeljahre der Republik
Eine jahrelange Recherche hat sich gelohnt. Wolfgang Kraushaar hat jetzt eine andere Chronik der fünfziger Jahre verfaßt. Statt nur Mief und Restauration: Aufbruch und Protest ■ Von Jan Feddersen
Eine der größten Flunkereien, die die Generation der Achtundsechziger über sich gern verbreitete, ist die, daß es in den Jahren zwischen 1945 („Befreiung vom Faschismus“) und 1967 („Unter den Talaren, Muff von tausend Jahren“) eigentlich wenig gegeben habe, was im Sinne von Rebellion und Widerstand der Rede wert war. Denn sie erst errettete das Land aus der Umklammerung einer klerikal-konservativen Elite. Die 50er Jahre sollten, so der heimliche Sound der messianischen Texte der späten 60er Jahre, nur als Wirtschaftswunderjahre begriffen werden, allenfalls als „Pubertät der Republik“. Also: harmlose Jahre?
Der bequeme Blick zurück diente zwei Seiten zugleich: den 68ern selbst, die ihr rebellisches Tun jetzt exklusiv geadelt wissen konnten; und natürlich auch dem konservativen Milieu, das just in dieser Rebellion das Abendland bedroht sah. Die einen nahmen nur eine dumpfe Bundesrepublik wahr, die erst zu demokratischem Geist erweckt werden mußte; die anderen beschworen Sitte und Anstand, immer mit dem Ziel, die unanständige Vergangenheit unterm Teppich zu lassen.
Wolfgang Kraushaar, Politikwissenschaftler am Hamburger Institut für Sozialforschung, räumt nun mit dieser Legende der unpolitischen Fünfziger auf. Seine akribische und spannende Studie „Die Protest-Chronik“ zeigt, daß schon während der jungen Jahre der Bundesrepublik sich mehr widerständige Kraft regte, als bisher angenommen werden wollte.
Neun Jahre arbeitete der Autor an seinem Projekt, Auszüge seiner Recherchen erschienen bereits im Mittelweg, der Zeitschrift des von Jan Philipp Reemtsmas Geld getragenen Instituts. Faszinierend: Tag für Tag, vom 1. Januar 1949 (Wolfgang Abendroth wird Professor an der neugeschaffenen Hochschule Wilhelmshaven), bis zum 31. Dezember 1959, erzählt diese Chronik Ereignisse aus einem unbekannten Jahrzehnt. Gebündelt wird diese Fülle von Material in erst Monats-, dann kommentierenden Jahresübersichten. So legt Kraushaar Fährten, damit die einzelne Spur nicht verloren geht.
Heraus kommt dabei nicht eine Moritat auf ein verkanntes Jahrzehnt, sondern ein krudes Lied, das die Bundesrepublik so besingt, wie sie als junge Demokratie offenbar war: vermischt und aufbrüchig. Kraushaar verzichtete dabei auf umfängliche Erklärungsmuster und kommt – wie wohltuend – ohne Zeigefinger aus.
Er will nur Chronist sein. „Methode dieser Arbeit: literarische Montage. Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.“ Dieses Zitat von Walter Benjamin stellt Kraushaar als Motto seiner Arbeit voran. Und in der Tat, das Material, das er für sein kiloschweres Kompendium zusammengetragen hat, ist vielfältig genug – Zeitungen, Lexika, Monographien, Flugblätter, Protokolle und ungedruckte Quellen.
Kraushaar belegt beispielsweise die neo- und altnazistischen Wiederbelebungsbemühungen ebenso genau wie die Versuche der Arbeiterbewegung, an ihre Traditionen aus der Weimarer Republik anzuknüpfen. Alltägliches findet sich neben Hochpolitischem, der Streik der schleswig-holsteinischen Metallarbeiter neben dem Provinzdrama aus Tübingen, wo 26 Bürger (15.3. 1958) zu geringen Strafen verurteilt werden, weil sie ein Haus anzündeten, um zu verhindern, daß dort „Zigeuner“ einziehen.
So im Detail nachgeforscht, stellt sich die Friedensbewegung der 80er Jahre mitnichten als die größte der Nachkriegszeit dar. Denn tatsächlich hat es 30 Jahre zuvor Proteste von Millionen gegen die Wiederbewaffnung gegeben. Daß die Bundeswehr schließlich zu einem Teil der zivilen Bundesrepublik werden konnte und nicht zu ihrem staatlich alimentierten Freikorps, so ist zu schließen, hat mit eben diesem öffentlichen Protest zu tun.
Die „,unpolitischen‘ fünfziger Jahre, dieses ungebremste Frönen des Privaten, der Traum- und Fluchtwelten sind ein Mythos“, schreibt der Autor in der Einleitung, „sie stellen selbst ein Nebenprodukt einer Politik dar, die sich erst nach heftigen innenpolitischen Konflikten durchsetzen konnte.“
Bereits Kaspar Maase hatte mit seiner Studie „BRAVO Amerika“ (Hamburg 1993) über den zivilisierenden Einfluß des Jugendmagazins auf das Bewußtsein der Nachkriegsgeneration Indizien dafür geliefert, daß die damals Jungen weniger mit Dumpf als mit Dampf etwas im Sinn hatten. Für die meisten waren es Jahre des Aufbruchs: doch nicht zur Sonne und Freiheit, sondern zu Sonnenschirm und Freizeit.
Andere Forschungsarbeiten wie die von Axel Schildt („Moderne Zeiten“, Hamburg 1995) über den Zeitgeist der 50er Jahre unterstützen das Projekt Kraushaars. Auch sie resümieren: Die Kraft der Linksliberalen 68ff bedeutete für die Bundesrepublik eine Zäsur. Eine allerdings, für die der Boden ein Jahrzehnt zuvor gelegt wurde.
Wie sehr die Deutung dieser Jahre noch umstritten ist, bewies vor fünf Monaten eine Debatte von Klaus Harpprecht und Fritz F. Raddatz in der Zeit. Während der frühere Feuilletonchef darauf beharrte, in einer repressiven Republik gelebt zu haben, in einer, die nichts als Biedersinn kannte, probierte sich Harpprecht, einst Redenschreiber Willy Brandts, an der These, daß trotz aller „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei), die die NS-Kader nach 45 fast unbehelligt ließ, sich auch in der Frühphase der Bundesrepublik demokratische Tugenden durchzusetzen begannen.
Der Konflikt um dieses anrüchige Jahrzehnt ist also noch offen. Kraushaar liefert nun Material genug, auf dessen Grundlage sich trefflich weiterstreiten läßt. Denn im Unterschied zum „Ploetz“ langweilt die „Protest-Chronik“ nicht mit den reinen Fakten. Kraushaar gelingt das Geniale: eine Gesellschaft in Bewegung sichtbar und nachfühlbar zu machen.
Wolfgang Kraushaar: „Die Protest-Chronik 1949–1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie“. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Hamburg 1996; 4 Bände, 2.712 S., 4.130 Abbildungen, 120 DM
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