Neue, kochende Leidenschaft

Boris Becker und eine aufgeregt schwitzende Stadt: Nach seinem Auftaktsieg bei der ATP-WM bahnt sich eine wunderbare Freundschaft an  ■ Aus Hannover Matti Lieske

Boris Beckers Befähigung, einen Tennisball auf den rechten Fleck zu schlagen, hat in den letzten Wochen nach eigener Einschätzung ein Niveau erreicht, „wo ich vielleicht noch nie war“. Es ist beruhigend, daß sein Talent zur philosophischen Betrachtung der Dinge darunter keineswegs gelitten hat. „Der Mensch ist ein unbegründetes Wesen“, dozierte er, nachdem sein Auftaktmatch bei der ATP-WM in Hannover mit 6:4, 7:5 gegen Jewgeni Kafelnikow gewonnen war. Man könne nicht alles erklären. Zum Beispiel, warum er diesmal weniger nervös gewesen sei als bei vorherigen ATP-Weltmeisterschaften, ATP-Finals oder Mastersturnieren, wie diese Treffen der besten Spieler der Saison ganz früher „am treffendsten“ (Becker) hießen.

Dann fielen dem noch bis morgen 28jährigen aber doch einige Gründe für jene Lockerheit ein, die es ihm ermöglichte, sogleich vorzügliches Tennis zu spielen und dem armen Kafelnikow 17 Asse um die Ohren zu schmettern. Zum einen habe er lange Zeit nicht damit gerechnet, überhaupt hier zu sein, außerdem sei die Stimmung bei der WM „nicht so bierernst“ wie zum Beispiel bei den Grand Slams: „Man hat das Jahr gespielt, und es war ein gutes Jahr, sonst wäre man nicht hier.“ Das sorge für Entspannung.

Zum anderen sei das Publikum einfach großartig gewesen. Im letzten Jahr war er noch ein gnadenloser Kritiker des Umzugs von Frankfurt nach Hannover gewesen. Nun lobte Becker die Zuschauer in der niedersächsischen Landeshauptstadt über das rot- weiße Roß und bewies, daß endlich auch er die Botschaft der ATP verstanden hat: Hannover ist Spitze.

Vorausgegangen war eine Propagandakampagne des Veranstalters, der die vorhergehenden Turniere nur noch als „The Road to Hannover“ apostrophiert hatte. Sogar alle vergangenen ATP- Weltmeisterschaften hat man kurzerhand, sozusagen posthum umbenannt in „Hannover 1986“, „Hannover 1990“, „Hannover 1995“, wie es in der Broschüre „International Tennis“ zu lesen ist.

Die Dauerberieselung trägt Früchte. Hatten die Spieler vor einem Jahr meist noch leicht spöttisch gegrinst, wenn sie auf den neuen Austragungsort angesprochen wurden, können sie den Namen nun auswendig und sind des Lobes voll. „Eine wunderbare Halle, hervorragende Bedingungen“, lobte Michael Chang, und Becker sah sogar ein hartnäckiges süddeutsches Vorurteil widerlegt: „Je weiter man nach Norden geht, desto kühler werden die Leute.“ Die Halle habe „gekocht“, die Rezeption seiner Person sei „sehr warm“ gewesen und, aufgepaßt!, die Atmosphäre wäre geeignet, „Frankfurt vergessen zu lassen“. So schnell kann es gehen, daß ein „idealer Doppelpartner“ (Becker) wie das Festhallen-Publikum dem Gedächtnisschwund anheimfällt und einer neuen, wunderbaren Freundschaft Platz machen muß.

Einen weiteren Vorteil hat die kochende Leidenschaft der Hannoveraner außerdem für Becker: Sie macht den Platz schneller. Nach dem Training hatte er noch gemäkelt, daß die Bälle zu lahm absprängen. Doch die höheren Temperaturen durch 13.000 aufgeregt schwitzende Menschen am ersten Tag sorgten zum Leidwesen der Grundlinienspieler wie Chang oder Muster für erhebliche Beschleunigung.

„Wenn man diesen Platz noch schneller macht, gibt es neue As- Rekorde“, sagte ein resignierter Michael Chang nach seiner 4:6, 4:6-Niederlage gegen Richard Krajicek (22 Asse), und Thomas Muster schimpfte nach dem 4:6, 4:6 gegen Goran Ivanisevic (21 Asse), daß man alle anderen Statistiken außer der des Aufschlags getrost vergessen könne.

Es scheint sehr unwahrscheinlich, daß ein Spieler dieses Turnier gewinnt, der nicht in der Lage ist, rund 20 Asse in zwei Sätzen fertigzubringen oder wenigstens übernatürlich zu returnieren. Damit wären Muster („auf zwei Meter wachse ich nicht mehr“), Chang, Kafelnikow und wohl auch Agassi aus dem Rennen.

Beste Aussichten für Boris Becker, der wie Pete Sampras nicht nur gut aufschlägt, sondern auch glänzend zu spielen versteht und heute in seinem zweiten Match schon einen großen Schritt zum Halbfinale tun kann. Vorausgesetzt natürlich, daß sein Handgelenk hält. Wie er in Hannover zugab, plagt ihn das gelegentlich immer noch so stark, daß er Schmerzmittel nehmen muß. „Es gibt gute Tage, und es gibt schlechte Tage“, sagte er, im Lauf einer Turnierwoche werde es aber meist besser.

Erstmals verriet er nach dem Kafelnikow-Match Einzelheiten über das Zustandekommen der Sehnenverletzung beim Wimbledon-Turnier im Sommer. „Schwerkrank“ sei er in der Nacht vor dem verhängnisvollen Godwin-Match gewesen, habe hohes Fieber gehabt und hätte eigentlich gar nicht antreten dürfen. Weil es jedoch nach Regen aussah und der übernächste Tag der sonntägliche Ruhetag gewesen wäre, habe er sich „irgendwie über die Zeit retten“ wollen. Aber der Regen kam zu spät, die durch das Fieber geschwächte Sehne riß. „Ich habe den Preis bezahlt“, sagt Becker. Ob vollständig, wird sich in den nächsten Tagen zeigen.