: Wege ins Paradies
Albanien – Griechenland: Im Grenzgebiet Epirus stoßen die Europäische Union und die Dritte Welt aneinander ■ Von Niels Kadritzke
Ausnahmsweise werde ich den Taxifahrer fragen. Kostas Koumbaros, der den Mercedes-Diesel vom Flughafen in die griechische Provinzhauptstadt Ioannina steuert, hat jahrelang in Deutschland gearbeitet. Wie viele Griechen aus dem Epirus, der ärmsten Region des ärmsten EU-Landes.
Was er von den Albanern hält, die illegal oder auch halblegal in Ioannina arbeiten? „Schlechte Menschen.“ Es klingt eher verbittert als verächtlich: „Du läßt sie arbeiten, und dann stehlen sie und laufen weg.“ Und natürlich kennt Kostas jemanden, der einen kennt, dessen Nachbarin von einem Unbekannten – also einem Albaner – überfallen wurde.
Die Allee, die auf die Innenstadt von Ioannina zuführt, heißt Voriou-Ipirou-Straße. Nordepirus nennt man in Griechenland den Süden Albaniens, wo eine beträchtliche hellenische Minderheit lebt. Viele Griechen glauben, daß diese Nordepiroten in ihrer Region eigentlich die Mehrheit sind. „Freiheit für Nordepirus!“ pinseln griechische Extremisten an Hauswände oder Brückenpfeiler; oder ganz unverblümt die Forderung nach „Enosis“, der Vereinigung mit der „Mutter Griechenland“.
Offene Anschlußpropaganda macht jedoch nur die nationalistische Mavi, die „Befreiungsfront für den Nordepirus“. Die Mavi- Leute pflegen seit Jahren die Legende, in Albanien gebe es 400.000 Griechen. Neutrale Beobachter schätzen die Minderheit auf 150.000, die albanische Statistik konzediert etwas über 50.000. Die politische Entwicklung hat den Zahlenstreit längst überholt. Die Hälfte der albanischen Griechen ist schon über die Grenze nach Süden gewandert und macht keine Anstalten, zurückzukehren. Die Vereinigung aller epirotischen Hellenen ist längst in vollem Gange – aber sie vollzieht sich auf griechischem Boden.
Das erklärt, warum die Südepiroten in Griechenland zu ihren nordepirotischen Landsleuten in Albanien ein schizophrenes Verhältnis haben. Nachzulesen ist das in der Zeitung. Albanische Griechen, die von albanischen Landsleuten ausgeraubt wurden, führt der Polizeibericht als „Nordepiroten“. Wird ein Nordepirote jedoch als Täter verdächtigt, mutiert er zum „Albaner“ – auch wenn er einen klassisch griechischen Namen hat.
„Sie wollen ins Innere Albaniens?“ fragte der Hotelier in Ioannina. Dabei wollte ich nur nach Gjirokastra, keine 40 Kilometer jenseits der Grenze. „Egal“, weiß er, „die Räuber lauern gleich hinter Kakavia.“ So heißt der griechisch-albanische Grenzort. Der Name bedeutet „schlechter Weg“. Vor Jahren war das noch untertrieben. Bis 1990 endete die Schotterpiste an einem Elektrozaun. Heute brummt in Kakavia der Transitverkehr. Und die künftige Europastraße E 853 wird zügig ausgebaut, mit zwei Millionen Franken aus dem EU-Programm für die unterentwickelten Regionen der Gemeinschaft, zu denen der griechische Epirus gehört.
Thanassis alias Elvis, eine nordepirotische Existenz
Für Albaner ist dieser Armutspol der EU dennoch das gelobte Land. Deshalb stehen sie hier vor einem Eisentor mit daumendicken Gitterstäben, gesichert durch ein schweres Vorhängeschloß. Aber ich will in die andere Richtung. Dabei ist mir ein junger Mann behilflich. Thanassis spricht fließend Griechisch, ist aber Albaner aus Gjirokastra. Er hat ein Dauervisum, denn er studiert in Thessaloniki. Thanassis schleust mich an der Warteschlange albanischer Griechen vorbei. Der griechische Beamte sieht meinem EU-Paß und ruft den Posten, der den Schlüssel fur das Vorhängeschloß verwaltet.
Als das Eisentor hinter mir zufällt, wollen mir fünf Albaner ein Taxi andienen. Aber Thanassis hat mich schon adoptiert. Ich kann mit ihm fahren, ihn erwartet ein befreundeter Taxifahrer. Statt überfallen zu werden, sitze ich in einem dieselnden Mercedes und höre mir eine griechisch-albanische Familiengeschichte an. Thanassis erklärt, daß er auf albanischem Boden Elvis heißt. Richtig, wie Elvis Presley. Der Vater von Elvis-Thanassis ist Albaner, die Mutter Griechin. Das sei typisch für Gjirokastra, bestätigt der Taxifahrer, der sich mit englischen, italienischen und griechischen Brocken einmischt.
Unser Fahrer heißt Arian und gehört zur erweiterten Familie. Sein Bruder ist mit der Schwester von Elvis Mutter verheiratet. So wurden zwei Familien verbandelt, von denen eine christlich-orthodoxe, die andere muslimische Wurzeln hat. Das sei in Gjirokastra keine Seltenheit, versichern Elvis und Arian: „Hier fragt keiner, ob du griechisch oder albanisch, orthodox oder muslimisch bist.“
Ich möchte, daß Elvis und Arian mir ihre Familiengeschichte auf mein Tonband erzählen. Elvis ist begeistert, Arian meint: „Nein, lieber nicht.“ Und fügt hinzu, als ob das eine Erklärung wäre: „Ich war 15 Jahre lang Polizist. Keiner, der die Leute auf der Straße anschnauzt, sondern einer mit vier Streifen, mit einem Schreibtisch. Arbeit mit Hirn.“ Arian tippt sich an den Kopf. 15 Jahre Polizeioffizier unter dem Hodscha-Regime sind offenbar nicht in der Uniform hängengeblieben. Auch wenn er jetzt ein Taxi fährt, für die Lizenz ist er auf die neuen Uniformträger angewiesen.
Wir schaukeln durch üppiges Grün. Der Fluß Drinos macht dieses Tal zu einer der fruchtbarsten Landschaften Albaniens. Die Ebene könnte als Gemüsegarten genutzt werden, doch das Grün von der griechischen Grenze bis Gjirokastra ist nichts als Weideland. „Hier am linken Berghang liegen lauter griechische Dörfer, aber da wohnen nur noch Alte und Kinder, die können nichts als Schafe hüten“, erklärt Thanassis. „Die mittlere Generation ist in Griechenland. Geld verdienen!“
Auf der Straße durch die leeren Dörfer sehen wir erstaunliche Autos. Qualmende Lastwagen chinesischer Bauart, aber auch so mancher Glitzerschlitten. Bei jedem Pkw ruft mir Arian triumphierend den Preis ins Ohr: der Mercedes zwei Millionen Drachmen, der nächste anderthalb, dieser nagelneue BMW knapp vier Millionen. Alles Schieberware, sagt Thanassis trocken. Wenn ich will, kann ich mir auch einen Mercedes bestellen: „Du sagst Baujahr und Farbe, in sechs Wochen ist er da.“
Hodschas Bunker, Zeugen des Steinzeitsozialismus
Im zweiten Dorf halten wir bei einer Taverne. Ein zweistockiger Neubau, frisch verputzt zwischen mürben Betonhäusern und verfallenden Schuppen. Vorerst bin ich der einzige Fremde. Und der will nur einen Kaffee und eine Toilette. Alles neu gekachelt, mit Waschbecken und Wasserhähnen aus Griechenland. Als ich zum Tisch zurückkehre, hat Arian den Kaffee bereits bezahlt. Das gehört sich so, nachdem wir ausgemacht haben, daß er mich einen Tag herumfahren und abends zur Grenze zurückbringen soll. Bezahlen soll ich, was ich für richtig halte.
Außerdem versichert mir Arian, daß wir jetzt Freunde sind. Das ist für mich günstig. Als ehemaliger Polizist, sagt mein neuer Freund, kennt er in dieser Gegend alle Welt, und alle Welt kennt ihn. Wie zum Beweis tritt ein Bekannter an unseren Tisch. Breite Schultern in greller Nylonjacke, enge Hose, noch enger die Gesäßtasche, in der die Pistole steckt. „Shika?“ frage ich, Berischas Geheimpolizei auch im letzten Dorf? Arian lacht: „Polizia privata.“ Und Elvis erklärt, daß in diesen Griechendörfern die abwesenden Eigentümer private Schutzleute anheuern, die ihren Besitz gegen die Besitzlosen verteidigen. Der einzige Job für ehemalige Polizisten, die sich kein Taxi leisten können.
Wir fahren weiter. Wo immer ein Dorf beginnt, sprießen warzenähnliche Betonbuckel aus der Erde – die Muttermale jeder albanischen Landschaft. Wie versteinerne Mini-Ufos, die irgendwelche weltfremden Wesen als fluguntauglich zurückgelassen haben. In Wirklichkeit sind sie die Druidensteine des albanischen Steinzeitsozialismus. Die unzerstörbaren Buckelbunker aus Enver Hodschas Zeiten verkörpern das surrealistische Projekt, das sich als albanischer Weg zum Kommunismus propagierte. Sie waren die Ausgeburt von Hodschas defensivem Größenwahn: Die Imperialisten aller Länder wollten Albanien überfallen, von allen Seiten.
Als das Regime am Ende war, ließ sich keiner der ausländischen Feinde blicken. Statt dessen wollten sie das elende Albanien neu einzäunen wie ein Pestquartier. Einige warfen einen Blick herein und verschwanden wieder. Die Albaner warten bis heute auf die habgierigen Kapitalisten. Die aber zeigen wenig Lust, das verelendete Land auszubeuten. An der Straße nach Gjirokastra sind die einzigen Feldzeichen des Imperialismus Wimpel von Heineken, Kronenbourg, Löwenbräu. Wenigstens Europas Bierkonzerne schicken sich an, Albanien zu erobern.
Von der lokalen Mafia und dem europäischen Traum
Die Taverne liegt hoch über den Dächern der Stadt. Arian hat mich über halsbrecherische Kehren heraufgefahren. Einstmals feierten hier Enver Hodscha und die lokalen Parteibonzen. Der albanische Diktator ist in Gjirokastra geboren. Früher galt er als größter Sohn der Stadt, heute beruft man sich lieber auf den Dichter Ismail Kadar, dessen „Chronik in Stein“ Gjirokastra in die Weltliteratur eingeführt hat.
Der Ausblick ist atemberaubend und bedrückend. Auf einer Felsnase schiebt sich die Festung, die der Stadt einmal den Namen „Silberburg“ gab, wie ein Schlangenkopf in die Ebene vor. Die alte Stadt schmiegt sich in die Falten des kahlen Bergsturzes, ein Mosaik aus schieferschwarzen Dächern und grünen Gartenflächen. Unterhalb der Altstadt haben die Planer des albanischen Sozialismus ein neues Stadtzentrum wie zum Appell antreten lassen: Verwaltungsbauten und uniforme Häuserblocks, in der Mitte eine verwahrloste Sportarena.
Arian hat Kaffee bestellt. Der Kellner ist Angestellter, aber von wem? Arians Auskünfte nähren den Verdacht, daß diese Perle des erhofften Tourismus im Besitz der lokalen Mafia ist. Aus der teuren Lautsprecheranlage kommen schwermütige Lieder. Arian will mir klarmachen, wo Gjirokastra auf der albanischen Landkarte liegt. Auf der Papierserviette entsteht ein Spinnenetz von Straßen und Flüssen, mit fetten Fliegen für die größeren Städte. Mich interessieren mehr die Liedertexte. Arian übersetzt eine Ode an die nahe und doch so ferne Geliebte und zerreißt dabei seine Albanien-Karte in winzige Fetzen. Sicher ist sicher. Enver Hodscha ist zwar lange tot, aber in diesem Lokal kann man ja nie wissen.
Als wir in die Stadt hinunterfahren, umkurvt Arian in den steilen Pflasterstraßen die Schlaglöcher mit chirurgischer Präzision. Er will mich zu den örtlichen Journalisten bringen. Sämtliche Redaktionen nisten in einem räudigem Betongebäude, das früher der Parteizeitung gehörte. Hier haben auch die beiden Blätter der griechischen Minderheit ihr Domizil. In Argyrkastro, wie die Stadt auf griechisch heißt, leben etwa 8.000 Griechen; dazu kommen 15.000 in den Dörfern des Drin-Tales, erzählt Amalia Kentrou, Redakteurin der Zeitung Laiko Vima (Tribüne des Volkes). Die meisten Griechen unterstützen ihre Vereinigung Omonia und die Partei der Menschenrechte, in der sie mit anderen ethnischen Minderheiten zusammenarbeiten: mit den Wlachen, den Roma, mit den serbischen Montenegrinern in Nordalbanien und den Slawomakedoniern ganz im Osten.
Für die Griechen hat die Omonia nicht nur griechischen Unterricht auf allen Schulebenen durchgesetzt. Sie will auch den gesamten Bezirk von Gjirokastra zu einer „freien Wirtschaftszone“ machen. Gesetze, die steuer- und zollfreie Investitionen ermöglichen, sind vom Parlament in Tirana bereits beschlossen. Südalbanien als „freie Zone“ würde griechische Investoren anziehen und damit auch die abgewanderten Nordepiroten in ihre Heimat zurücklocken.
Aber die Omonia will auch etwas für ihre albanischen Landsleute erreichen: „Damit die Albaner an einem ökonomischen Aufschwung teilhaben können, sagen wir dem griechischen Staat, mit dem wir gute Beziehungen haben, daß er eine legale und organisierte Immigration auch für Albaner erlauben soll“, erklärt Michail Nadjo von der Zeitung Stimme der Omonia, „Wir wollen hier zusammen leben, gemeinsam kämpfen wir für unser Programm, und das soll uns nach Europa führen...“ Das finden auch die Albaner, die das griechische Konsulat belagern, um eine Fahrkarte ins Paradies, ein Einreisevisum zu bekommen. Als der Konsul Anfang September seinen Amtsbetrieb aufnahm, mußte die Polizei am ersten Tage die Tumulte von 2.000 potentiellen Antragstellern ersticken.
Epirotischer Schnaps mit Hodschas letztem Partisan
Daß sich Albaner und Griechen in ihrer Stadt nicht gegeneinander ausspielen lassen, betont auch Thanassis Dino. Der Journalist arbeitete schon zu Hodschas Zeiten für die Zeitung der damaligen Kommunisten. Seinem griechischen Vornamen zum Trotz ist ihm die griechische Sprache nicht besonders geläufig. Seine Partei, die
sich heute sozialistisch nennt, unterstützt die Forderungen nach umfassenden Minderheitenrechten. Aber Dino fände es besser, wenn die Griechen sich nicht separat organisieren, sondern in den albanischen Parteien mitarbeiten.
Dann lädt mich der sozialistische Grieche zu einem Tsipouro ein. Er serviert den epirotischen Schnaps im Freien, auf einer Bank vor dem Hauptquartier der Sozialistischen Partei. Wie sieht er im Rückblick das alte Regime? „Das war wie im finsteren Mittelalter, ein furchtbarer Fehler.“ Doch eines müsse man sagen: Nie habe Hodscha die einzelnen Gruppen gegeneinander ausgespielt. Die Albaner wurden genauso unterdrückt und bespitzelt wie die Griechen. Gab es in der Partei keinerlei Opposition gegen den Diktator? „Keiner hatte den Mut. Nicht einmal dem engsten Freund hat man seine innersten Gedanken verraten, aus Angst vor dem Geheimdienst.“
Wie Pelivan ins Paradies Deutschland wollte
Als mich Arian wieder abholt, hat er einen Freund mitgebracht, Pelivan aus der Stadt Tepelene, die 30 Kilometer weiter im Norden liegt. Der schmächtige blonde Mann spricht Deutsch. Seine Geschichte ist die Geschichte von Albanien und dem übrigen Europa. Vor fünf Jahren schaffte es Pelivan über die Grenze nach Griechenland. In Volos arbeitete er zwei Jahre lang als Maler. Die Polizei ließ ihn in Ruhe, von den Kollegen lernte er leidlich Griechisch. Eines Tages erzählte ihm ein Grieche, wie Pelivan für eine Million Drachmen ins Paradies kommen könnte, womit er Deutschland meinte.
Eine Million Drachmen waren gut 6.000 Franken, seine ganzen Ersparnisse, aber als Eintrittsgeld zum Paradies ein einleuchtender Preis. Pelivan ließ sich auf einem griechischen Fernlaster verstecken, der von Patras mit der Fähre nach Brindisi übersetzte. Der griechische Fahrer brachte ihn am italienischen Grenzposten vorbei an Land. Dort durfte er ins Fahrerhaus umsteigen, jetzt fuhren zwei griechische Trucker auf der Autostrada Richtung Milano. Irgendwo steuerte der Fahrer die Autobahnpolizei an und meldete, seinem „Kollegen“ sei in einer Raststätte der Ausweis gestohlen worden, vermutlich von Albanern.
Die Carabinieri stellten dem griechischen „Beifahrer“ Ersatzpapiere aus. Dann ging es durch die Schweiz nach Deutschland. Im Paradies angekommen, setzte der Grieche seinen Kunden mit einer Kölner Adresse ab. Pelivan fuhr mit dem Zug weiter und beantragte in Köln Asyl. Sein Fall war nicht besonders überzeugend, aber es reichte für zwei Jahre Asylbewerberheim. Sein größter Kummer war, daß er nicht arbeiten durfte. Aber er bekam Sozialhilfe, von der er den größten Teil noch hatte, als sein Prozeß in letzter Instanz verlorenging. Pelivan beklagt sich nicht, aber ich habe das Gefühl, die deutschen Richter verteidigen zu müssen. Ich erzähle, daß zehn Prozent der Leute in Deutschland arbeitslos sind. „Ich weiß“, sagt Pelivan, „in Tepelene sind es hundert Prozent.“
Bevor mich Arian zur Grenze zurückfährt, steuert er in Gjirokastra einen kleinen Hügel hinauf. Oben angekommen, merkt man, daß hier etwas fehlt. Auf dem betonierten Plateau stand Enver Hodscha, erklärt mir Arian und weist pathetisch mit dem Arm ins Weite. Heute ragt neben der nackten Fläche ein anderes Symbol in die Höhe. Der rostige Kran, der das Hodscha-Denkmal aus den Angeln hob. Das Instrument des Tyrannensturzes, eingerostet in seiner historischen Pose. Seit sechs Jahren steht der Kran wie festgewachsen. Eine neue Baustelle hat sich für ihn noch nicht gefunden. Auch Naturschönheiten will Arian mir noch zeigen. Wir fahren in Richtung Tepelene, links der Straße weitet sich der Fluß zu einem See. Arian kurvt durch wilde Wiesen und ein Pappelwäldchen. Zwei BMW-Limousinen stehen unter einem Baum, in seinem Schatten sitzen fünf Männer, mit weißen Hemden und gelockerten Krawatten. „Geheime Geschäfte“, sagt Arian und lacht besserwissend. Auf dem Uferstreifen an der Badebucht stehen neun blitzende Karossen, vier Mercedes, drei BMW, ein Audi und ein Renault. Lautlos und verbissen hantieren die Besitzer mit Wassereimern, Lederlappen und Sprühdosen, als werde der südalbanische Meister im Autowaschen ermittelt.
Als wir zur Hauptstraße zurückfahren, ist die Männerkonferenz unter dem Baum noch immer im Gange. Falls sich die Gespräche um Geldwäsche drehen sollten, könnte Arian mit einem Tip aushelfen. Kein Zweifel, die beste Investition in dieser Gegend wäre eine Autowaschanlage.
Auf dem Weg zur Grenze muß Arian tanken. Die Zapfsäule zeigt den Preis in Drachmen. Auch das Benzin wird aus Griechenland angeliefert. Im Wirtschaftsalltag ist der Süden Albaniens längst eine Drachmen-Zone. Ein richtiger Mensch, sagt Arian, ist man hier nur mit griechischem Geld in der Tasche. Neben der Tankstelle steht ein gewaltiger UFO-Bunker. Im Innern sind noch die Träger der Eisenhydraulik zum Öffnen und Schließen der Geschützöffnung zu sehen. Der Boden ist schuhhoch mit Exkrementen bedeckt. Die umliegenden Dörfer nutzen Hodschas Bunker als wetterfeste Schafställe. „Schwerter zu Pflugscharen“ auf albanisch. Nicht die schlechteste Lösung, aber auch nicht die billigste.
An der Grenze bezahle ich Arian für seine Dienste. Ein Taxi in Griechenland wäre dreimal so teuer gewesen. Arian sagt: „Das ist wirklich sehr viel Geld.“
Kriege und Grenzen, Aufstände und Symbole
Der Bus nach Ioannina wartet hundert Meter hinter der Grenze. Es gibt viele Kontrollen, die letzte zwei Kilometer weiter, von der griechischen Armee. Bis Kalpaki sind es zwanzig Minuten. Auf der Anhöhe über dem Dorf steht ein Kriegerdenkmal. Es erinnert an eine große Stunde der griechischen Nation: Hier endete Anfang November 1940 der Vormarsch der italienischen Armee, die über die albanische Grenze in Griechenland einmarschiert war. Die griechische Armee leistete erbitterten Widerstand, an dem sich damals ganz Europa begeisterte.
Dann trieben die Griechen die Italiener zurück und eroberten ganz Südalbanien. Für die griechischen Epiroten stand fest, daß der Nordepirus jetzt für immer an Griechenland angeschlossen war. Anfang März 1941 kam der griechische Vormarsch bei Tepelen zum Stehen. Einen Monat später eroberte die Wehrmacht mit ihrem Blitzkrieg den Balkan, und die Griechen gerieten wie die Albaner unter die Stiefel der faschistischen Besatzung.
Das Wahrzeichen von Ionnina ist die Zitadelle mit dem Palast und den beiden Moscheen, die Ali Pascha auf einem Felsplateau über dem Pambtis-See errichten ließ. Ali Pascha von Tepelen hatte sich Ende des 18. Jahrhunderts vom osmanischen Sultans unabhängig gemacht. Ioannina wurde zur Hauptstadt eines epirotischen Staates, in dem moslemische und christliche, albanische, griechische und wlachische Untertanen gleichermaßen unter seiner Willkürherrschaft zu leiden hatten.
Für Europäer wie Lord Byron, die Ali Paschas Reich bereisten, erstreckte sich Albanien damals über den gesamten Epirus, der bis Arta und an den Golf von Patras von „türkischen“, also moslemischen Albanern dominiert wurde. Und Albaner orthodoxen Glaubens lebten damals bis nach Attika und waren glühende Anhänger des griechischen Befreiungskampfes gegen die osmanische Herrschaft. Einige der fähigsten Führer dieses Aufstandes stellten die Soulioten, christliche Albaner, die in der wilden Bergregion zwischen Ioannina und Arta siedelten.
In der Hauptstadt des griechischen Epirus wurde einem der souliotischen Guerillakrieger ein waghalsiges Denkmal errichtet. Die Büste des Notis Botsaris balanciert in acht Meter Höhe auf einer korinthischen Säule. Unweit der Botsaris-Säule von Ioannina residiert der albanische Generalkonsul. Angesichts der vielen Landsleute, die legal oder illegal in Griechenland arbeiten, müßten seine Amtsräume überlaufen sein. Doch als ich ihn besuche, sitzt der Konsul ganz allein in seinem klimatisierten Büro. Ich frage ihn, was er tun kann, wenn albanische Wanderarbeiter – wie so oft – von der Polizei aufgegriffen und abgeschoben werden.
Von Schwarzarbeitern, Blut und Dreck
Natürlich will er seinen Leuten helfen, beteuert Herr Imami. Der Generalkonsul drückt sich um das Eingeständnis, daß er für die meisten seiner Landsleute nichts tun kann, solange der Vertrag zwischen Athen und Tirana, der albanischen Arbeitern in Griechenland einen legalen Status verleihen soll, noch nicht in Kraft ist.
Wie es diesen Arbeitern ohne Rechte geht, erfahre ich drei Busstunden weiter. In der Nähe von Agrinion besuche ich Freunde, die mit der Ausgrabung der antiken Siedlung von Stratos beschäftigt sind. Der Grabungsleiter Ernst- Ludwig Schwandner hat mir von einem Steinbruch erzählt, in dem fünf illegale Albaner arbeiten.
Sotiris Kalamaras, ein Bauer aus dem Dorf, fährt uns kilometerweit durch ausgedörrte Kalksteintäler. Als wir uns dem Steinbruch nähern, sehen wir fünf Gestalten gemsenartig in fünf Richtungen die Hänge hinaufhetzen. „Das erlebe ich immer wieder bei Erkundungen im Gelände“, sagt der Archäologe Schwandner. „Wie sich die Zeiten ändern. Wenn man die Reiseberichte aus dem osmanischen Epirus liest, sind es immer die Griechen, die beim Anblick albanischer Soldaten oder Gendarmen das Weite suchen.“
Als wir im Steinbruch ankommen, merken die fliehenden Albaner, daß wir keine Polizisten sind. Fünf magere, sonnenverbrannte Männer – zwischen 20 und 30 Jahre alt – kehren an ihren illegalen Arbeitsplatz zurück. Unter diesen Felswänden, die unbarmherzig die Sonnenglut zurückwerfen, arbeiten sie zehn Stunden am Tag, sechs Tage in der Woche, Sommer und Winter. Sie wuchten Steinplatten auf Holzpaletten, die dann ein Bagger auf einen Lastwagen hebt. Nachts schlafen sie auf der Hügelkuppe unter einer Plastikplane. Tagsüber „wohnen“ sie im Steinbruch im verrosteten Skelett eines ehemaligen VW-Busses.
Jeder der Männer verdient pro Monat 600 Mark. Davon ernähren sie ihre Familien in Albanien, alles in allem etwa dreißig Menschen. Wie oft sie nach Hause fahren können? „Im Jahr einmal. Häufiger über die schwarze Grenze zu gehen, ist zu teuer und zu gefährlich.“ Verglichen mit Pelivan aus Tepelene können sich diese fünf Albaner glücklich schätzen. Sie haben ihr provisorisches Paradies gefunden, auch wenn es ein höllisch heißer Steinbruch ist. So oder ähnlich leben in ganz Griechenland vielleicht 300.000 Albaner. Nicht alle haben ein regelmäßiges Einkommen wie unsere Steinbrucharbeiter. Manche arbeiten wochenlang und werden davongejagt, wenn sie das verabredete Geld verlangen.
Und manche Wanderarbeiter kommen im Paradies erst gar nicht an. Ende September erwischte ein griechischer Bauer eine Gruppe Albaner, die in seiner Scheune übernachtet hatten. Einen von ihnen erschoß er mit seinem Karabiner, die anderen führte die Polizei ab. Lebensgefährlich kann es auch sein, sich auf griechische Schlepper einzulassen. Oft werden Albaner wie Viehherden in geschlossenen Lastwagen transportiert; bei Unfällen sind auf diese Art schon etliche Albaner zu Tode gekommen.
Die meisten Wanderarbeiter werden auf griechischem Boden geduldet. In bestimmten Jahreszeiten sind sie sogar höchst willkommen. Im Spätherbst, zur Zeit der Olivenernte, kann sich der Athener Innenminister vor Anrufen aus der Provinz kaum retten. Die Präfekten der Regionen, die von den Oliven leben, fordern, die Polizei müsse die Albaner unbedingt in Ruhe lassen, weil es keine anderen Hände für die Ernte gibt.
Als wir vom Steinbruch zurückfahren, frage ich Sotiris Kalamaras, ob schon einmal ein Dorfbewohner einen Nachbarn wegen illegaler Beschäftigung angezeigt habe. „Das wäre undenkbar“, sagt Sotiris, „wir haben hier 50 Albaner versteckt. Gefahr droht ihnen nur von der Asfalia, der Sonderpolizei. Aber mit der will niemand was zu tun haben. Und unser Dorfpolizist drückt beide Augen zu.“
Und dann erzählt der Bauer Sotiris seine eigene Geschichte. Schon vor Jahren hat er vier Albaner als Arbeiter angeheuert. Sie lebten in seinem Lagerhaus, wo er Waschbecken und eine Toilette für sie gebaut hatte. „Für mich hatte das den Vorteil, daß sie nachts meine Sachen bewachten, vor anderen Albanern.“ Dann fing er an, Kleider für sie zu sammeln und sich nach Jobs umzuhören. Wenn Sotiris denunziert worden wäre, hätte er drei Jahre Gefängnis bekommen oder eine Geldstrafe von einer halben Million Drachmen, über 3.000 Franken.
Ich frage Sotiris, warum er sich so um die albanischen Wanderarbeiter kümmert. „Das war vor fünf Jahren, als die ersten hier ankamen. Sie waren die ganze Strecke gelaufen, 300 Kilometer von der Grenze. Sie hatten schreckliche Wunden an den Füßen. Das Blut vermischte sich mit dem Dreck von der Straße. Da habe ich was aus der Apotheke geholt, zum Desinfizieren.“ So war das eben, und so ist es heute noch. „Du erlebst es immer wieder. Und wenn du ihre Füße siehst, eine einzige Kruste von Blut und Dreck, dann fragst du dich: Bist du ein Mensch, oder bist du es nicht? Und wenn du ein zivilisierter Mensch sein willst, muß du etwas tun.“
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