Geistige Schubumkehr

■ Die Ex-Galeristen Helga und Hans-Jürgen Müller errichten ein Kunst- und Kulturzentrum auf Teneriffa / Ausstellung in der Weserburg

Auch Riesen müssen klein anfangen. Rund 30.000 Quadratmeter Hanglage mißt das Grundstück „Mariposa“, 650 Meter hoch über den Stränden Teneriffas. Doch glaubt man den Grundstückskäufern und Bebauern, Helga und Hans-Jürgen Müller, soll von den 30.000 Quadratmetern „Mariposa“ eines nicht so fernen Tages eine geistige Schubumkehr eingeleitet werden, die übers Meer selbst bis hin nach Bremen ausstrahlt. Wie das gehen soll, erläutert das Ex-Galeristen- und Sammler-Ehepaar aus Stuttgart in dieser Woche im Neuen Museum Weserburg, wo die Unermüdlichen gerade Station machen, um für ihr Projekt zu werben.

Schon vor zwölf Jahren haben sich die Müllers, die in den 60er und beginnenden 70er Jahren zu den einflußreichsten Galeristen des Landes zählten, ihre buchstäblich fixe Idee in den Kopf gesetzt: „Der Kunstmarkt kam mir immer mehr wie ein zoologischer Garten vor“, lästert Hans-Jürgen Müller. Und: „Es gibt doch genug Bilder für die nächsten hundert Jahre.“ Ein neuer Sinn sollte her - fürs eigene Leben und für die Kunst. Und so kratzten die Müllers kurzerhand ihr Erspartes zusammen und schaffen seit drei Jahren Tatsachen.

Seitdem gestalten spanische Handwerker und auf die Insel eingeladene KünstlerInnen das Gelände „Mariposa“ - zu deutsch: Schmetterling - im Auftrag der Müllers durch und um. Häuser wurden umgebaut oder errichtet, die Wüste wurde urbar gemacht und wie ein Patchwork mit Skulpturen und anderen Kunstwerken durchzogen. Kurz: Das Gelände wurde und wird buchstäblich kultiviert. Und dies unter fast völligem Verzicht auf seriell gefertigte Produkte. Geht alles gut, soll „Mariposa“ zu Silvester 1999 in eine Stiftung umgewandelt werden und fortan als Ideenschmiede von KünstlerInnen und anderen QuerdenkerInnen mit Führungskräften aus Wirtschaft und Politik dienen.

Anlässe für diese aus dem humanistischen Ideal abgeleiteten Kontakte zur Kunst gibt es nach Auffassung der Müllers genug. Denn anders als vielen ZeitgenossInnen geht ihnen die Tschernobyl-Katastrophe von 1986 nicht aus dem Sinn. Dazu gesellt sich der ästhetische Widerwille gegen eine zunehmend seelenlos gestaltete Umwelt. Müller: „Wenn wir für schöne Städte schwärmen, dann sind es alte Städte.“ Im Vortrag oder im Gespräch klingt diese Zivilisations-kritik durchaus esoterisch. Und ihre Argumentation wurzelt und zielt in erster Linie auf das schlechte Gewissen der (Erfolg-) Reichen.

Und doch steht im Vordergrund, daß die Müllers das scheinbar plumpe Kästner-Rezept „Es gibt nichts gutes, außer man tut es“ aufgreifen. Schon 1976 schrieb der Ex-Galerist in einem Buch: „Wenn der Mensch keine Chance zur kreativen Mitgestaltung seiner Umwelt hat, wird er Befriedigung in der Zerstörung suchen.“ Die Müllers immerhin beließen es nicht beim Anprangern, sondern tun, ähnlich wie die Christos mit ihrem Reichstagsprojekt, alles dafür, daß die vermeintlich verrückt klingende Utopie Wirklichkeit zu werden beginnt. ck

In einer Foto-Ausstellung wird „Mariposa“ bis zum 29.11. in der Weserburg vorgestellt. Die Müllers sind bis Freitag anwesend