Ruhig wie der Nil
„Meine Grabinschrift“: Achternbusch im Werkraum der Münchner Kammerspiele ■ Von Vera Botterbusch
München im November. Feuchtkalt. Es schneit. In den Auslagen der Boutiquen der Maximilianstraße weihnachtet es schon. Die Kammerspiele sorgen mit „Reden über das eigene Land“ für gesellschaftskritische Hygiene. Bajuwarische Hintergedanken von Gerhard Polt und den Biermösl Blosn heizen dort mit „Bayern Open“ ein. Warm wird es auch um die Ecke, im Werkraumtheater, dem architektonisch nüchternen Pendant zum jugendstiligen Schauspielhaus. Warm und exotisch. Am Nil. Herbert Achternbusch hat dem klassischen Griechenland adieu gesagt, wo noch sein Ende Januar dieses Jahres in den Kammerspielen uraufgeführtes Theaterstück „Der letzte Gast“ spielte. Er hat den Ort einer Hafenkneipe verlassen, wo er dem Un-Sinn, der die Welt bedeutet, Ohr und Stimme lieh und philosophisch verbrämte Binsenweisheiten wie kleine Appetithappen reichte und wo zum Schluß der Geschichtsschreiber Thukydides mit Seherblick über den Trunkenen wachte.
Das alte Ägypten ist nun der Ort von Achternbuschs Reden. Am Ufer des Nil hat er sein Lager aufgeschlagen, dort, wo der alte Schreiber Amenhotep mit dem jungen Schreiber Seth sitzt und sein Leben erzählt. „Meine Grabinschrift“ heißt dieses – wie Achternbusch selbst in einer Nachrede formuliert – „herbe Sprechstück“, das bewußt auf bekannte Achternbusch-Requisiten wie „Gaudi“ oder „Obszönität“ verzichtet. Ein literarisches Testament, ein Nachlaß zu Lebzeiten, verfaßt für Rolf Boysen, einen Schauspieler, der wie prädestiniert scheint für den langen Atem eines Redenden, der im Reden (und Reden heißt für Achternbusch immer auch Schreiben) nicht nur die Chronik seines Lebens, sondern die der Gesellschaft, der Welt, des Universums entwirft. „Wer die Schrift besitzt, besitzt die Sprache“, teilt Amenhotep seinem begierig seinen Worten lauschenden Schüler-Schreiber Seth mit: die literarische Absichtserklärung eines Autors, dem das Gesagt-Geschriebene, die Hieroglyphe als die sichtbare Symbolwelt der Gedanken, der einzig sichere Hort von Erfahrung, von Wirklichkeit zu sein scheint, dem das Erinnerte zum Leben wird.
Amenhotep erinnert sich seines Lebens nachdenklich, ja präzise, als suche er nach etwas, das sich erst dann mitteilt, wenn man jedes Ereignis bedachtsam unter die Lupe nimmt, jeden Schritt aufmerksam verfolgt. Darin versteckt sich die Frage nach dem Sinn, nie ausgesprochen, vielmehr verklausuliert in den Erklärungen zu der Bedeutung und Genauigkeit der zu verwendenden Schriftzeichen. „Diese Geschichte ist der Beginn eines Bewußtseins, das wir noch nicht kennen“, sagt Amenhotep an einer Stelle und erklärt Seth: „Nimm das Zeichen für Mann, davor die stolpernde Hand, dahinter den schwingenden Flügel. So habe ich das immer gemacht. Man wird es verstehen. Wir müssen dem Wortlaut immer etwas anderes hinzufügen.“ So wird Sprache zu einer Abfolge von Bildern, die je nach Wahl die Aussage differenzieren und die Vorstellungskraft aktivieren. Die Bilder legen die Gedanken fest, ihre Genauigkeit setzt Grenzen, ihre Kühnheit entgrenzt und öffnet den Raum für das zunächst nicht Vorstellbare.
Aber Achternbusch, der Maler- Autor, Schauspieler-Regisseur und Filmemacher, der hier auch für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, wäre nicht Achternbusch, wenn er all dies mit abstrakter Gedankenblässe verkünden würde. Aus der Anschaulichkeit der Bilder eines dichten Sprachgewebes entwickelt sich zunehmend der Sog dieses reduzierten Sprechstücks, das so ruhig dahinfließt wie der Nil, an dessen Ufer Amenhotep mit Seth sitzt und in die blaue Nacht schaut, um von dort vielleicht die Offenbarung des letzten Geheimnisses zu erfahren. Dieser Sog ist eng gebunden an die geradezu rituelle Intensität, mit der Rolf Boysen als Amenhotep und Jens Harzer als Seth sich in ihr Spiel versenken: Boysen als ein abgeklärter Weiser, der bis zuletzt sowohl die Eitelkeit seines Egos als auch den Zweifel an seinen Erfahrungen und die Hoffnung auf Erkenntnisse nährt; Harzer als ein verträumter Jüngling, der begeistert an den Lippen seines Lehrers hängt und – so scheint es zuweilen – zum wiederholten Mal mit ihm das Land der Erinnerungen bereist. Sparsam und karg sind die Gesten: Boysen erzählt gelassen, abgeklärt, mit gemäßigtem Abstand und nur kurzfristigen Eruptionen einer Gefühlsregung. Harzer schreibt, lauscht mit der spürbaren Verhaltenheit eines verehrenden Jünglings.
Achternbusch ist ein erfahrener Märchenerzähler. Er liebt es, mit einem Schalk im Nacken den anderen einen Bären aufzubinden, aus Freude an Spaß und Spiel, an Widerspruch und Freiheit. Und Achternbusch wäre schließlich auch nicht Achternbusch, wenn bei ihm irgendwas, ob Denken, Schreiben, Malen, Spielen oder Leben, ohne Bier ginge. Das Bier als Tranquilizer und Glücksdroge, wenn nicht schlichtweg Durstlöscher im Föhnland Bayern, in Ägypten, anderswo oder überall.
Achternbusch treibt die Sehnsucht nach den Ursprüngen, und dabei stößt er auf Not und nacktes Elend. So ist diese Grabinschrift zugleich ein Dokument der Menschlichkeit. Über den Nil fliegen können wie eine Gans oder vielleicht auch wie ein Huhn, wie Seth fälschlicherweise notiert, wäre eine Rettung vor den angstmachenden Krokodilen und bleibt doch nur eine Vision. Amenhotep geht in den Tod, Seth weint und zerbricht die Schreibfeder. Zögernder, fast ratloser, dann zunehmender Beifall.
„Meine Grabinschrift“. Buch und Regie Herbert Achternbusch. Mit Rolf Boysen und Jens Harzer. Kostüme Anne Poppel. Nächste Aufführungen am 4. und 12. Dezember im Werkraum der Münchner Kammerspiele