„Aids hat die Integration von Schwulen gefördert“

■ Der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker über die Bedeutung des Welt-Aids-Tags

taz: Herr Dannecker, Aids hat hierzulande nicht zu einer Marginalisierung der von dieser Krankheit Betroffenen geführt. Ist der Welt-Aids-Tag noch nötig?

Martin Dannecker: Ja, weil im Fleisch von vielen Schwulen noch der Verlust vieler Freunde sitzt. Hinzu kommt immer noch das Gefühl von Bedrohung, trotz der neuen Therapieformen. Der Welt- Aids-Tag ist auch ein wichtiger Trauertag.

Welche Bedrohung meinen Sie?

Die, sich selber beim Sex aufs Spiel zu setzen. Ein Risiko gibt es ja immer noch. Und die Erinnerung an die Toten gehört zum Trauma der Schwulen.

Eine gesellschaftliche Bedrohung erwähnen Sie nicht. Als Aids vor zwölf Jahren Thema wurde, fürchteten manche eine neue Schwulenhatz.

Die ersten Infizierten gehörten Randgruppen und Subkulturen an. Insofern war diese Annahme nicht ganz unbegründet.

Günter Amendt, Autor des populären „Sex-Buchs“, warf Ihnen Verharmlosung vor.

Ja, ich hatte aber schon damals nicht geglaubt, daß es zu einem Zusammenbruch der mühsam erreichten liberalen Standards in unserer Gesellschaft kommen würde.

Und jetzt?

Sehe ich mein Gefühl bestätigt. Mehr noch: Aids hat eine Paradoxie hervorgebracht, nämlich eine stärkere Integration der Homosexuellen in die Welt, wie sie ist.

Leben wir heute in einem homofreundlicheren Land?

In gewissem Sinne ja. Der Diskurs über Homosexuelle läuft verständnisvoller. In den Köpfen der Träger gesellschaftlicher Macht gibt es andere Bilder über Homosexuelle als vor Aids.

Woran liegt das?

Weil diese mit – nicht nur aidskranken – Homosexuellen konfrontiert wurden. Man brauchte sie ja zur erfolgreichen Durchsetzung der Präventionsprogramme. Und die sichtbar gewordenen Schwulen haben bewiesen, wie sie gesellschaftliche Aufgaben bewältigen können. Die Belohnung dafür war eine stärkere Integration.

Inzwischen ernten Schwule auch Kritik. In den USA heißt es, Homosexuelle hätten sich gut mit Aids profilieren können – und die weltweite Dimension der Krankheit zugleich ausgeblendet.

Als Beschreibung trifft dies zu, nicht als Kritik. Denn einer Gruppe, die von Aids so stark betroffen ist, vorzuwerfen, daß sie ihre Möglichkeiten ausgenutzt hat, um erträgliche Bedingungen zu schaffen, ist albern. Die anderen von Aids betroffenen Gruppen haben am Erfolg der Schwulen ja auch partizipiert.

Wie?

Vielfältig, beispielsweise dadurch, daß in Aids-Stationen die strikten Besuchszeiten aufgehoben sind. Kaum zu bestreiten ist außerdem, daß jetzt über Prostitution und Drogenkonsum rationaler, aber auch mitfühlender gesprochen werden kann.

Wie erklären Sie trotz Safer-Sex- Kampagne die Neuinfektionen?

Sexualität birgt eine innere Logik, die mit der Präventionslogik nicht ohne weiteres vereinbar ist.

Warum nicht?

Man kann beim Sex den Kopf verlieren – und man will ihn verlieren können. Deshalb betreffen die Neuinfektionen nicht nur die Jungen, sondern auch Ältere, die eigentlich um die Risiken wissen.

Warum sind Kondome als Safer-Sex-Hilfsmittel akzeptiert und gleichzeitig verhaßt?

Kondome symbolisieren Distanz, also das Gegenteil von Vertrauen und Nähe. Liebe mit Kondom ist ein Kunststück.

Die Mittel, die Aidskranken jetzt schon helfen könnten, sind extrem teuer – ein Widersinn zu den Sparmaßnahmen im Gesundheitsbereich. Kann Aids so überhaupt besiegt werden?

Das soll nicht zynisch klingen, aber da hoffe ich auf die ökonomischen Interessen des Kapitals. Aids ist und wird ein Riesengeschäft, gerade in der Dritten Welt. Insofern wird die Aids-Forschung nicht nachlassen.

Das Motto des Welt-Aids-Tages lautet in diesem Jahr „One World. One Vision“. Ist das nicht Augenwischerei, weil Aids zusehends zum Armutsproblem wird?

Richtig, aber „Eine Welt. Eine Hoffnung“ heißt doch auch, aus unserer günstigen Situation heraus Druck zu organisieren, daß diese Bedingungen überall auf der Welt anzutreffen sein werden. Interview: Jan Feddersen