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Tränen im Rotlicht

■ "I'll be Your Mirror" ist das Opus magnum der Fotografin Nan Goldin, einer Meisterin der kleinen Form, die allerhand Subkultur in die Kunstwelt getragen hat

Als Nan Goldin vor mehr als einem Jahrzehnt in Berlin ihre „Ballade der sexuellen Abhängigkeit“ als Diaschau vorstellte, hielt sie aus diesem Anlaß eine Rede. Deren einziger Inhalt, in diversen Varianten vorgetragen, war: Daß dieses Bilderprojekt täglich fortgesetzt werde und das Konvolut von Dias permanent ausgetauscht. Für mich war es ein Rätsel, was sie damit sagen wollte. Schließlich zeigte sie jetzt – Februar 1984 – im Kino Arsenal ihre 200 oder 300 Bilder, und was interessierte es, ob sie morgen davon fünf auswechseln würde oder nicht?

Wenig später erschien unter dem gleichen Titel das Aperture- Buch bei 2001: grelle Blicke in dunkle Höhlen, Bäder, Bars. Niemand in dieser Welt schien einer Arbeit nachzugehen, oder wenn, war sie nicht interessant genug, um aufgenommen zu werden. Ein Kompendium der zerfurchten Laken, der Augenringe: exhibitionistische Eitelkeiten einer geschlossenen Szene. Was Goldins Fotografie interessant – oder vielleicht auch nur erträglich – machte, war deren tiefe Melancholie; eine Art Verschwörung mit dem Scheitern.

Weil die Motive irgendwie aus der Welt des Rock 'n' Roll stammten und offensichtlich, aber nicht bis an die Ekelgrenze, mit Drogen zu tun hatten, galt ihr Werk als zugehörig zur linken Welt. Der anti- emanzipatorische Kick wurde damals übersehen. Die Männer, die Goldin zeigte, wirkten durchweg rüpelhaft, unreflektiert oder brachial, und die Frauen fanden sich wieder mit einem „Herzförmigen Bluterguß“ (Bildtitel) auf dem Schenkel und mit blauen Augen. Vor allem die Fotografin selbst.

In der Monographie, die ihre laufende Retrospektive im New Yorker Whitney Museum of American Art begleitet, berichtet der Schriftsteller Darryl Pinckney über Goldins erste Jahre auf der Lower East Side. Ohne viele Umschweife erzählt er, wie sie in die Abhängigkeit eines Mannes gerät, der seinen Bürojob gegen ein Leben in ihrer Szene tauscht und seinen Groll darüber, daß er nicht konkurrieren kann, physisch an ihr rächt.

Obwohl Pinckney ein paar hübsche Sentenzen zu ihren Gunsten erdacht hat („Die Herzen flogen ihr einfach zu“), überwiegt sein Unbehagen. Als er sie Jahre später in Berlin wiedertrifft, ist Pinckney „richtig gerührt von ihrem Anblick, von diesem Wesen, das aus Augen, Locken und neuen schwarzen Schuhen zu bestehen schien“. Gnädigerweise hat er das „nur noch“ weggelassen. Mit einem einzigen Satz verwirft er das Konzept der Szene, zu der Pinckney selbst gehört hatte: „Wir waren nicht die erste Generation, die der verhängnisvollen Lehre auf den Leim ging, daß ein wildes Leben von einer fruchtbaren schöpferischen Phantasie zeugt (...), und daß man um seiner tollkühnen Ästhetik willen erst eine Zeitlang im Dschungel leben muß.“

Auf eben dieser verhängnisvollen Lehre beruht Goldins Werk, das mit einem Schlag uninteressant werden würde, wenn es plötzlich ein geordnetes Leben, einen Hauch von Ambition widerspiegeln würde. Ihre Fotografie hängt davon ab, daß die Leute um sie herum ihre Konflikte melodramatisch ausagieren: Tränen bei Rotlicht. Und daß sie selbst kein Werk hervorbringen, das gegen eine fortwährende Anekdotenbildung zu schützen wäre. Umgekehrt sind die Freunde für die Fotografin nur insofern akzeptable Modelle (oder eben Freunde), als sie Goldins Kunst als Ausdruck tollkühner Ästhetik uneingeschränkt akzeptieren. Es ist ja kein Zufall, daß sie mit Kleinbildkamera, viel mit Blitz und vor allem auf Diafilm arbeitet – also mit relativ wenig Aufwand schnell verfügbare Produkte erstellt. Sie kommt ohne eigene Dunkelkammer aus. Die Arbeit darf nicht wirklich wie Arbeit aussehen. Dann würden die Figuren abspringen, auf der sie basiert. „I'll be Your Mirror“ heißt die Monographie.

Sie hat 492 Seiten und enthält zwölf Textbeiträge, die die Bildstrecken unterbrechen. Die Bildstrecken haben keine Titel, und sie könnten auch keine haben. Sie folgen insofern grob der Chronologie, als das Werk in seiner Entstehung gezeigt werden soll; natürlich kommt NY-Punk erst und Aids später. Aber als Kapitel sind sie pure Konfusion. Auf den Seiten 385 bis 445 zum Beispiel sieht man die Manhattan Skyline, Bilder einer Subszene aus Tokio, eine bleiche Nackte (die in einen spiegelnden bayrischen See steigt, von hinten), Piotr Nathan und Freunde beim Melonenpicknick in Salzburg, Porträts aus New York, maßvolle lesbische und schwule Liebesszenen bei Kunst- und Tageslicht, Piotr Nathan beim Frühstück in Berlin, Bilder von Rebecca auf Mykonos, wieder die bleiche Nackte: Jetzt im See, oder ist es ein Fluß? Und was ist dieses Buch, Fluß oder See?

Plötzlich begreife ich, was Goldin gemeint haben mag, als sie vor zwölf Jahren im Kino Arsenal mit Verve vortrug, daß die Bilder ihrer Diaschau fortlaufend ausgetauscht würden: Sie möchte nicht die Legitimation verlieren, weiter diese Bilder zu machen. Das Projekt anzuhalten, heißt ein Urteil heraufzubeschwören. „I'll be Your Mirror“ ist das Opus magnum einer Meisterin der kleinen Form. Nan Goldin hat ihren Platz in der Geschichte der Dokumentarfotografie, das ist klar. Sie hat gezeigt, wie man ein Leben in Konfusion heroisiert, und ein paar Nachahmer gefunden. Sie hat ein beträchtliches Maß Subkultur in den Kunstbetrieb getragen. Auch wenn sie mit ihrer Fotografie letztlich sich selbst meint – oder ihre Wahlfamilie –, ist auf den Bildern mehr zu sehen als Kopfschmerz. Ob man will oder nicht, man wird sich erinnern. Ulf Erdmann Ziegler

Nan Goldin: „I'll be Your Mirror“. Scalo Verlag, Zürich, Berlin und New York. 492 Seiten, 128 DM

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