: Georgs gotische Girls
■ Baselitz stellt die nackten Tatsachen in der Galerie Steinbrecher wieder auf den Kopf / „Gotische Mädchen“, 36 Radierungen
Natürlich hängen sie alle wieder über Kopf, die 36 nackten Damen von Georg Baselitz, die in der Galerie Steinbrecher momentan gezeigt werden. Die eigentlich 49 Radierungen umfassende Serie hat der Künstler „Gotische Mädchen“ getauft und mit Kaltnadel, Mezzotinto und Aquatinta teils coloriert, teils in Schwarz-Weiß zu Papier gebracht.
Vor allem in den weniger mit Ornamenten vollgestopften Exemplaren beeindruckt die noch nie zuvor ausgestellte Aktgalerie. Da ist diese überaus klare, beinahe archaische Strichführung, in der man die gleiche Entschlossenheit und Kraft am Werke sieht, die den Maler Baselitz seit jeher auszeichnet. Während die mit Grün colorierten oder mit Ornamenten verzierten Akte zu sehr ins Dekorative tendieren, fallen unter den reduzierteren Schwarz-Weiß-Radierungen zwei besonders positiv auf: In beiden spielt Baselitz mit dem Voyeurismus der KunstfreundInnen. Einmal hebt er den nackten Körper durch einen über Geschlecht und Brüste verlaufenden Rahmen hervor; das andere Mal verbirgt er den gleichen Bereich hinter einem schwarzen Gitter. Die Korrespondenz zwischen den beiden Exponaten entdeckt man freilich erst bei mehrmaligem Gang durch die Ausstellung, denn das Konzept der Hängung hat glücklicherweise hier auf jegliche Didaktik verzichtet und Bilder wie diese weit auseinander plaziert.
Neben den „Gotischen Mädchen“ gibt es bei Steinbrecher aber noch eine Reihe großformatiger Holzschnitte zu sehen, unter denen eine 1990 entstandene Fünferserie dann doch durch ihre Positionierung ins Auge fällt. Unter den Titeln „45 – Mai“ bis „45 – Oktober“ werden hier zwei Köpfe gezeigt, die im ersten Bild von einem zurückhaltenden weißen Gitter umgeben sind und sich in der Folge immer mehr hinter einer ansteigenden Komplexität aus Punkten und netzartigen Linien verlieren, bis man sie im letzten Holzschnitt hinter dem abstrakten Chaos nur noch erahnen kann.
Durch ihre farbliche Zurückhaltung präsentiert sich die Schau in den Räumen am Dobben wie aus einem Guß und wie geschaffen für diese Galerie. Und es gibt hier auch Platz genug, um zu den zwei großformatigen Holzschnitten „Brotteller“ (1994) und „Frau mit Frau“ (1994) die notwendige Distanz zu gewinnen. Erst aus der Entfernung von fünfzehn Metern nämlich enthüllen diese Bilder eine klare Struktur, während sie von nahem in feinziselierten Strichen zu versinken scheinen. Die „Gotischen Mädchen“ dagegen lassen sich in jedem Wohnzimmer gebührend präsentieren und eignen sich dadurch ganz besonders als kleine Weihnachtspräsente für KunstliebhaberInnen – vorausgesetzt, man kann die 1.800 Mark entbehren, die dafür aufzubringen sind.
Moritz Wecker
Georg Baselitz, „Gotische Mädchen“ in der Galerie Steinbrecher, Am Dobben 123. Bis 11. Jan. 1997. Öffnungszeiten: Di. – Fr. 10-18 Uhr, Sa. 10-14 Uhr und nach Vereinbarung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen