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Der Berg ruuuuuuft!

Ohne das 4.478 Meter hohe Matterhorn wäre das Walliser Dorf Zermatt wohl nie zu einem Wallfahrtsort für Bergsteiger und Skifahrer geworden, die nur eins wollen: da hinauf!  ■ Von Michael Schwager

„How do you like Zermatt?“ fragt mich Susanna, eine dunkelhaarige Schönheit aus Cincinnati, von der anderen Seite der Bar. Mit dem Getränkeausschank im Papperla-Pub verdient sie sich während der Saison ihren Europatrip. Obwohl sich ihr deutscher Wortschatz gerade mal auf „Eins, zwei, drei, vier“ beschränkt, hat sie der Wirt ohne Zögern eingestellt. Die meisten der englischsprechenden Gäste danken es ihm und kommen täglich in der Abenddämmerung zum Après-Ski. Auch die Liveband lockt Gäste. „Willie Nininger and Danny Counts from America“ haben sich mit ihren Instrumenten neben der Bar postiert.

Während sie die Stimmung anheizen, geht ein Bier nach dem anderen über die Theke. Alles singt und tanzt, soweit dies die schweren Skistiefel auf dem nassen Fliesenboden zulassen. Beim Rockklassiker „Proud Mary“ nähert sich die Stimmung dem Höhepunkt. Eine jugendliche Tina-Turner-Imitation mit rauchiger Stimme hat sich einen Platz auf der Bar erkämpft. Auch andere Gäste tanzen auf dem Tisch. Die Barmannschaft in bunten Westen mit Bierflaschenmuster klatscht munter mit und schlägt den Takt mit einer Kuhglocke. „Keep on rollin', rollin' on the river...“

Wie gefällt mir also Zermatt, überlege ich und weiß doch keine Antwort. Seit drei Tagen bin ich nun hier, und mehr als einmal kam mir das Wort „Disneyland“ in den Sinn. Diese Kneipe hier könnte sich genausogut in London oder Berlin befinden. Innen sieht es im Papperla-Pub aus, wie man sich ein Pub eben vorstellt: Butzenscheibenfenster, edelverholztäfelte Wände, Ledersitzgruppen, ein offener Kamin. Ein Endlosleuchtband über dem Eingang zählt Biermarken aus aller Welt auf. Motto: „If you feel blue, come and have a drink or two.“

Das Papperla-Pub ist nicht die einzige Kneipe, in der man von englischsprachigen Bedienungen begrüßt wird. Im North Wall Pub ein paar Häuser weiter gibt es den Australien Day: Während einer regelrechten Orgie wird der trinkfesteste Australier gekürt. Auf solcherlei Gästeunterhaltung stößt man in Zermatt immer wieder, ob in romantischer Bauernstubenatmosphäre oder gestylter High- Tech-Disco. Manche Lokale verfügen sogar über einen computergesteuerten Getränkeausschank: Ohne Keycard läßt sich keine Bierflasche öffnen und kein Drink ausschenken. Moderne Zeiten am Ende eines unwegsamen Gebirgstales auf 1.620 Meter Höhe.

Dabei waren es eher nostalgische Gründe, die mich ins Wallis führten. Früher erzählte mir meine Tante immer von den Reisen, die sie als junge Frau mit der Jugendgruppe in die Schweiz unternommen hatte. Ihre Augen glänzten, wenn sie sich an die ausgelassenen Tage im Chalet erinnerte. Ich stellte mir das immer vor wie in den Filmen mit Peter Kraus und Conny Froebess: singende junge Frauen in Blümchenkleidern mit karierten Koffern und grauen Leinenrucksäcken vor Gebirgskulisse. Manchmal zeigte mir meine Tante alte Schwarzweißfotos, kleine Bilder mit großen, grauen Bergen und kleinen, grauen Menschen davor.

Später dachte ich bei „Schweiz“ nur noch an Banken, Rösti und James Bond. Das war für mich der Inbegriff von Schweiz: James Bond in einem schicken Sportwagen auf einer Paßstraße bei der Verfolgung des gemeinen Goldfingers, der das zur Autokarosserie umgeschmolzene Gold in die Schweiz schmuggelt.

Bis ich dann eines Tages arglos in einem Fotobuch über die Alpen blätterte, wo ich auf ein seitefüllendes Foto des Matterhorns stieß. Mir war klar: Da mußt du hin!

Für diejenigen, die keinen Hubschrauber haben, ist die Brig-Visp- Zermatt-Bahn (BVZ) das einzige Verkehrsmittel, um ins autofreie Zermatt zu gelangen. Seit über 100 Jahren schon bringen die roten Schmalspurzüge die Touristen aus dem Rhonetal ins über 1.000 Meter höher gelegene Zermatt. Dabei gibt es sechs Steilabschnitte, die ein lautstarkes Poltern und Rattern ankündigt: Die Zahnräder an der Unterseite von Lok und Wagen greifen in die Zahnstange zwischen den Gleisen, der Wagenboden wird zur Steilrampe.

Der letzte Abschnitt der Strecke verläuft die meiste Zeit in Tunneln und Betongalerien, bevor die Zugfahrt recht unvermittelt in einem trüben Betonverließ endet. Das alte Bahnhofsgelände längs der Gleise schafft es bei der spärlichen Neonbeleuchtung kaum, den Eindruck von einem großstädtischen U-Bahnhof zu zerstreuen. Überall nur nackte Betonsäulen, die ein 1983 als Lawinenschutz gebautes Betondach stützen.

Auf dem Bahnhofsvorplatz herrscht internationales Stimmengewirr. Eine Armada von kleinen Elektrotaxis diverser Hotels wartet auf Fahrgäste. Was man im autofreien Zermatt früher mit Pferdeschlitten gemacht hat, erledigen heute fast geräuschlos die batteriebetriebenen Elektromobile. Mindestpreis für eine Fahrt von wenigen 100 Metern: zehn Franken pro Person. Natürlich kann man ganz nostalgisch immer noch das Pferdetaxi rufen, das kostet dann aber gleich das Doppelte.

Der Bahnhofsplatz wird von einem modernen Appartementkomplex im typischen Alpenstil dominiert: weiße Wände und viel dunkles Holz drumherum. Gegenüber liegt die Talstation der Gornergratbahn, die gerade eine Horde japanischer Skifahrer in rosa wattierten Kampfanzügen ausspuckt. Mit Skiern und Stöcken bewaffnet, arbeiten sie sich in die Bahnhofstraße vor.

In Zermatts Einkaufs- und Geschäftsstraße geht es zu wie in einer deutschen Fußgängerzone am letzten Samstag vor Weihnachten. Vierstöckige „Alpenhäuser“ mit Geschäften und Restaurants reihen sich aneinander. Nach wenigen Metern taucht bereits McDonald's auf, den örtlichen Gegebenheiten angepaßt: wuchtige Baumstämme dienen als Deckenträger, im Obergeschoß sorgt ein offener Kamin für Berghüttenromantik bei Hamburger und Rösti.

An vielen Gasthäusern führen kleine Türen zu den Kellerdiscos, Schilder laden zum abendlichen Dancing ein. Ein Plakat kündigt eine internationale Hypnoseshow mit dem berühmten Sando Khan an. Die neue Modeboutique namens „Harlem“ paßt eher zu der postmodernen Einkaufspassage als zum Hotel Mont Cervin direkt gegenüber. Neben dem Zermatter Hof und dem Monte Rosa gehört es zu den letzten mondänen Hotelbauten im Dorf. Obwohl ein häßliches Vordach das Erdgeschoß verunstaltet, kündet das Gebäude von Zeiten, als Skilaufen noch eine Stilfrage und dunkelbraune Holzbalken noch nicht der Inbegriff von Gemütlichkeit waren. Schlichtheit bestimmt die Eleganz solcher Häuser: einfache Fassade, geschmiedete Balkongeländer, dezente Schriftzüge. Weltläufigkeit statt Alpentümelei.

Alte Ansichtskarten zeigen, daß früher noch mehr solcher noblen Gebäude in das Alpendorf einen Hauch von Côte d'Azur brachten. In den 50er und 60er Jahren mußten sie vierstöckigen Hotelburgen in dunkelbrauner Holzverschalung weichen. Auf 5.000 Einwohner kommen mittlerweile 111 Hotels und 3.000 Ferienwohnungen. Kaum etwas ist übriggeblieben von dem kleinen Dorf Zermatt, für das man in den 20er Jahren mit kunstvollen Plakaten warb. Die Originale hängen im Züricher Museum für Gestaltung, die Nachdrucke gibt es als Nostalgiepostkarten in den Souvenirläden.

Zum Glück ist es den Schweizern noch nicht gelungen, das Matterhorn begehbar zu machen. Man kann zwar für 160 Franken mit dem Helikopter darum herumfliegen, wer jedoch hinauf will, muß mit Seil und Eispickel losziehen.

Mit der Seilbahn aufs Kleine Matterhorn. Einmal muß man auf 1.864 Metern umsteigen, das zweite Mal auf 2.939 Meter. Die Bahnstationen thronen wie moderne Burgen auf den Felsen und sind mit allem gastronomischen Komfort zur Versorgung der Skifahrer ausgestattet.

Die letzte Seilbahnetappe wird abenteuerlich: Die Gondel schwebt über einem angsteinflößenden Abgrund, weit und breit sind keine Seilstützen zu sehen. Wir scheinen regelrecht in der Luft zu hängen, bevor es plötzlich steil bergauf geht und ich die Gondel schon an den Felsen zerschellen sehe. Schließlich öffnet sich die Tür an der Endstation: ein langer Tunnel quer durch den Fels, am anderen Ende ein schwacher Lichtpunkt. Wieder muß ich an James Bond denken: Einmal hatte der Bösewicht in solch einer verschneiten Bergstation sein Hauptquartier. Ob es wohl diese hier in Zermatt war? Solch ein Tunnelsystem auf knapp 4.000 Meter Höhe wäre wohl für jede Verbrecherorganisation ideal. Doch von den dick vermummten Skifahrern sieht keiner wie ein Killer aus. Sie marschieren zielgerichtet auf das Licht am Ende des Tunnels zu, wo sie auf ihren Brettern in der Tiefe verschwinden. Die wenigen Sightseeingtouristen biegen in der Mitte in einen Seitentunnel und landen vor einem Fahrstuhl. Dieser führt im Berg nochmals 65 Meter nach oben. Fast ist es geschafft. Während ich die letzte Treppe emporsteige, merke ich auf einmal, wie dünn die Luft auf 3.885 Metern ist. Den Rest von Atem nimmt mir auf der Gipfelplattform das berauschende Panorama. Ringsum puderzuckerbestäubte Viertausender vor tiefblauem Himmel: Monte Rosa, Castor, Pollux, Breithorn, Matterhorn. Und im Westen die deutlich höchste Erhebung: der Mont Blanc. Die Berggipfel erstrecken sich von Horizont zu Horizont. Man hat das Gefühl, halb Mitteleuropa liege einem zu Füßen. Und blitzte im Süden plötzlich das Mittelmeer durch den Wolkendunst, es würde auch nicht verwundern.

Lange stehe ich da, in die Pracht der Bergwelt versunken. Eine Tafel am Gipfelkreuz beschreibt dieses euphorische Gefühl in einem Satz: „Mehr Mensch sein.“

Als ich wieder in das im nachmittäglichen Schatten liegende Zermatt hinunterfahre, ist es ein wenig, als würde man wieder in die Niederungen des menschlichen Daseins hinabsteigen. Mit jedem Meter in der Seilbahn wird die Welt dunkler, kleiner und enger.

Ähnlich ergeht es mir tags darauf, als ich im Glacier-Express gemütlich durch das Vispatal schaukele. Die Berge ringsum sind karg und schroff, steil abfallende Felsen lassen den Flußlauf in der Tiefe verschwinden. Manchmal spannt sich eine imposante Brücke auf die andere Talseite. Das Matterhorn ist schon lange nicht mehr zu sehen, Zermatt hinter den Bergen verschwunden. Keine Partiese mehr, statt dessen ungetrübte Alpenidylle. Die Schneefelder neben dem Bahngleis leuchten wie frischgewaschene Wäsche. Die dunkelbraunen Heuschober sehen darauf aus wie Flecken, die die Hausfrau beim Waschen nicht herausbekam. Lautsprecheransagen beschreiben die Sehenswürdigkeiten vor dem Zugfenster, während der junge Mann an der rollenden Minibar frischen Kaffee reicht. Eine Stunde lang geht es nochmals 1.000 Meter hinab in die Normalität.

Ich denke an den Abend im Papperla-Pub. „How do you like Zermatt?“ fragte mich Susanna ein zweites Mal, nachdem ich ihr immer noch keine Antwort gegeben hatte. Ich blickte zu dem kleinen Bild neben der Bar: ein gerahmter Schaukasten mit kleinen Seemannsknoten. Seemannsknoten in den Alpen! Ich mußte lächeln: „Zermatt is great“, sagte ich zu der amerikanischen Barfrau und bestellte noch ein Budweiser.

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