: Bonbonbunte Jagdszenen
■ Premiere im Bremer Theater: In Christina Friedrichs „Clockwork Orange“ verpuffte die Gewalt – als bloßer Radau inszeniert – gleich vor der ersten Reihe
Drei Kids fesseln einen gleichaltrigen Jugendlichen an einen Baum. Erst ziehen sie ihm einen Sack über den Kopf und dann traktieren sie ihn mit einem Schraubenzieher. Diese Szene stammt nicht etwa aus einem Horrorfilm, sondern geschah im Bürgerpark zu Bremen anno 1996. Doch auch abseits dieser grausamen Tat mischen sich - wie's scheint - immer mehr junge Menschen in die Kriminalitätsstatistiken. Ganz unverhofft überschnitten sich deshalb am Wochenende Realität und Theaterfiktion. So geschehen mit der Theaterfassung von Anthony Burgess „Clockwork Orange“, die am Sonntag zum Gefallen des Premierenpublikums erstmals über die Bühne des Schauspielhauses ging, polterte, hampelte.
Schon 1962 brachte der britische Übersetzer, Shakespeare-Biograph und Schriftsteller Anthony Burgess seine literarisch-utopische Parabel auf die Gewalt in der modernen westlichen Gesellschaft heraus. Schurke und tragischer Held zugleich ist Alex, der 15jährige Anführer einer bestialisch brutalen Jugendgang. In Ich-Form und im Szene-Slang aus englisch und russisch schildert dieser Alex, wie er und seine „Droogs“ plündernd, prügelnd und vergewaltigend durch die Gegend ziehen. Im zweiten Teil folgt seine Verhaftung und eine pawlowsche Konditionierung, nach der Alex vor Ekel vor jeder Gewalt zurückschreckt. Im Schlußteil trifft er die Opfer von einst wieder und ist hilflos ihrer Rache ausgesetzt. Die staatliche und gesellschaftliche Gewalt, so das Fazit, steht der Brutalität des Individuums kaum nach.
Mit kaum verhohlener Eitelkeit hat sich Anthony Burgess einmal dreist und neunmalklug über George Orwells „1984“ hergemacht. Doch im Vergleich zu Orwells Opus magnum hat sein „Clockwork Orange“ inzwischen weit mehr Patina angesetzt. Denn Burgess' Kritik an der Gesellschaft ist den 60er Jahren und ihrem Fortschrittsglauben an Elektroschock- und Medikamenten-Therapien in Knästen und der Psychiatrie verhaftet. Und die dreigeteilte Struktur ist so traktathaft starr, daß man sich für eine Inszenierung einiges einfallen lassen muß. Und dies auch dann, wenn man kaum an Stanley Kubricks 1972 entstandene visionäre Verfilmung heranreichen kann oder will. Unter dem Motto „keine Zitate aus dem Film“ hat sich die Hausregisseurin Christina Friedrich daran versucht.
Heidrun Schülers Bühne ein Nicht-Ort, ein Innen- und Außenraum zugleich. An den Wänden wie Höhlenmalereien stilisierte Tiere und Menschen. Doch diese Jagdszenen aus dem Dazumal sind das optisch einzig harmonische. Denn die Kostüme sind ein Stilmix quer durch die Epochen und wie die Requisiten ein bonbonbuntes, in sich beißenden Farben gehaltenes Abbild einer aus den Fugen geratenen Gesellschaft.
Die sitzt zunächst auf der Bühne, hintereinander, starr. Techno-Pop tönt aus den Boxen, langsam regt sich etwas. Alex (Heiko Senst) beißt eine Tüte auf. Leise rieselt der Koks zur Einstimmung auf die kommenden Greueltaten: Kreischend machen sich Alex und seine Gang über die Girlie-Punk-Band her; schmetternd läßt Gang-Mitglied Dim (Uwe Kramer) die Fahrradkette niedergehen; und viehisch stürzt sich Dim (Christoph Toma-nek) auf die Frau des Schriftstellers. Ja, es geht laut und brutal zu in diesem Stück, doch die Roheit verpufft irgendwo zwischen Bühnenrand und erster Reihe.
Denn kaum hat man sich an den Radau gewöhnt, wird deutlich, daß die Gewalt hier bloß als Krach, nicht aber als Phänomen inszeniert ist. Der Lust an der Macht weicht Christina Friedrich ebenso aus wie der Alles-egal-Stimmung, die Burgess' oder auch real-existierende Jugendliche zu ihren Exzessen motiviert. Und bis auf die eine Szene, in der die Sopranistin (Dorothee Mields) auf fast schon komische Weise malträtiert wird, umschiffen die unsortierten Regieanweisungen zu Action! Action! Action! auch das Gegenteil, nämlich, was die Gewalt mit den Opfern anrichtet. Kein Rausch, nirgends und auch keine Beklemmung.
Obwohl sich Heiko Senst in der Hauptrolle stärker noch als die anderen redlich abrackert und im ersten Teil krächzend den starken Max und in den stark gekürzten Teilen zwei und drei das Opfer markiert, hat Christina Friedrich demzufolge für Alex keine echte Vision. Nein, die Fähigkeiten und Vorlieben dieser Regisseurin liegen auf anderem Gebiet. In der auffälligsten und gleichwohl kaum nachvollziehbaren Regieidee, Hölderlins Hyperion (Carsten Andörfer) ausschnitthaft als Vorleser hineinzumontieren, offenbart sich, daß klassische Vorlagen ihr weit näher zu liegen als aktuell gewordene Stücke aus dem Antiquariat der Moderne. Christoph Köster
„Clockwork Orange“ wieder am 14., 22., 26. und 28.12. um 20 Uhr im Schauspielhaus
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