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Im Zauberwald der reinen Formen

Erlebnispark mit Erlösungsversprechen: Für den Kunsthistoriker Beat Wyss vollzog die Ästhetik der Moderne einen Mentalitätswandel vom „Willen zur Macht“ zum „Willen zur Kunst“  ■ Von Holger Liebs

Le Corbusier ist wieder en vogue. In Entwürfen vieler junger Architekturbüros wird der Meister aufs heftigste hofiert, weil er Mitte der 20er Jahre mit seinen radikalen Stadtmodellen Großlösungen anstrebte, die heute angesichts der zahlreichen städteplanerischen Krisenherde offensichtlich wieder gefragt sind. So ist Le Corbusiers „Plan Voisin“ für Paris (1922 bis 1930) ganz auf den grandiosen Effekt hin entworfen: Aus dem dichten Straßengewirr wird Ödland, unterbrochen nur von riesigen, rasierklingenförmigen Wolkenkratzern. Die Stadt mutiert – so formuliert es der Kunsthistoriker Beat Wyss in seinem jetzt erschienenen Buch „Der Wille zur Kunst“ – zur ästhetisch faszinierenden „Zentrifuge einer Menschheit auf der Durchreise“.

Le Corbusier – oder Charles- Edouard Jeanneret, wie er bürgerlich hieß – trat als „Königsarchitekt“ auf und sah mit dem „Wohlgefallen eines schöpferischen Diktators“ der Kolonisierung der humanen Rasse qua Architektur zu. Die Moderne war für ihn eine Art Luxusliner mit Sonnenanbetern auf dem Oberdeck: Parfumflacons und Sodaflaschen stehen herum, man ist „mit philosophischer Lektüre und Sport beschäftigt, jeder und jede hat eine Einzelkabine“.

Auch Beat Wyss benennt sehr präzise das „gegenwendige Reiseziel moderner Utopie: Es entspringt dem Heimweh nach einem Ort, an dem man noch nie zu Hause war.“ Der Hang der künstlerischen Avantgarde zur Technokratie, zur Architektur entsprang einer „epochalen ästhetischen Mentalität“: Die Moderne begriff sich selbst als Kollektiv mit Zukunftsaussichten – man wollte einen Erlebnispark mit Erlösungsversprechen bauen: Ob Götterdämmerung, ewiges Feuer oder kosmisches Nichts – im Zauberwald der Moderne bildeten Heilsgeschichten aller Art einen „elastischen Subtext“, ein „Geschwader unscharfer Gedanken“ aus.

Nicht nur in Le Corbusiers Luxusinterieurs für die Elite von morgen, sondern an allen Ecken und Enden der Epoche läßt sich die ästhetische Mentalität wiederfinden: in den Bauten des italienischen „Razionalismo“ zur Zeit Mussolinis genauso wie in den Manifesten der expressionistischen Künstlergruppe „Blauer Reiter“. Als etwa Franz Marc am Vorabend des Ersten Weltkrieges vom Ideengewölk der „Typusvollendung“ oder vom „Zauberer Krieg“ elektrifiziert war, da hatte das Geisterreich des „spirituellen Faschismus“ ihn längst überwältigt.

Wer heute eine Wallfahrt nach Ronchamp unternimmt oder sich Bildnisse blauer Pferde an die Wand hängt, weiß davon zumeist nichts: Die Nachkriegskunstgeschichte verschwieg die evil thoughts ihrer Säulenheiligen und verfiel statt dessen in kollektiven Verdrängungsschlaf, aus dem sie nur mit Verzögerung wieder erwacht. Es scheint schwer, sich von liebgewonnenen Vorstellungen zu trennen. Innerhalb geschlossener Museumsmauern sieht es meist so aus, als hätten Kandinsky, Malewitsch & Co. mit den Schnörkeln und Symbolismen des Historismus radikal gebrochen; dabei ruhte die Avantgarde zu großen Teilen auf dem heilsgeschichtlichen Sockel des 19. Jahrhunderts samt seiner spirituellen Strömungen. In der Zeit nach 1945 wiederum war die Katastrophe noch so nahe, daß die apokalyptische Stimmungsmache der Moderne einfach ausgeblendet wurde; aus dem „Willen zur Macht“ wurde der „Wille zur Kunst“. Heute, aus der historischen Distanz, sind die blinden Flecken der Kunstgeschichte zwar nicht mehr so groß, aber weder ist Franz Marc nur ein überschätzter Naivling und ansonsten ein „armer, törichter Romantiker“ (Eduard Beaucamp in der FAZ) noch Wyss selbst ein geifernder Moralapostel – Wolfgang Kemp nannte ihn in der Zeit, freilich nicht ohne Witz, den „Sektenbeauftragten der Kunstgeschichte“.

„Selbst an den sprödesten Abstraktionen und den erhabensten Denkfiguren haftet das billige Parfum des Zeitgeistes.“ Ausgehend von dieser Losung rückt Wyss die Maßstäbe zurecht, unter denen etwas als avanciert oder reaktionär zu gelten hat. Da fördert er Verblüffendes zutage, etwa im Vergleich der abstrakten Gitternetze Piet Mondrians mit der Philosophie eines Martin Heidegger. Mondrians Kunsttheorie sei, so Wyss, reaktionär, Martin Heideggers Kunstbegriff dagegen avanciert. Die Pointe: Ob Piet Mondrian im Straßennetz von Manhattan „die Vollendung der Kunst“ sah und auf der Leinwand ins Gleichgewicht eines Koordinatensystems brachte oder ob Martin Heidegger am Schwarzwälder Todtnauberg die Wege zur „Unverborgenheit des Seins“ entdeckte und die Wahrheit in Holzpantinen austrug, spielt dabei keine Rolle – beide wurden umströmt von derselben ästhetischen „Bewußtseinsdroge“: der Auffassung, daß sich im Kunstwerk „Wahrheit“ ereigne.

Kritisiert wird an Wyss vor allem sein brillanter Schreibstil: das Verfahren, für jeden Sachverhalt ein hübsches Passepartout mit Goldrand zu finden. Die staubtrockene Katasteramtsatmosphäre so manch anderer kunsthistorischer Schrift fehlt völlig – das führt zu Irritationen. Hinter der glitzernden Oberfläche des Textes ist die kunsthistorische Arbeit einfach nicht mehr zu erkennen. Die Sprache kriecht gleichsam auf Samtpfötchen in ihren Gegenstand hinein und verschwindet in ihm.

„Subversive Mimesis“ nennt Wyss diese Methode augenzwinkernder Anverwandlung. In Reinform tauchte sie erstmals im Debüt des Kunsthistorikers, der „Trauer der Vollendung“ (1985), auf. Heute wie damals geht es darum, einen Hybrid-Diskurs loszutreten, statt die „Gewaltenteilung von Kunstproduktion und Kunstinterpretation“ aufrechtzuerhalten. Schließlich ist nicht die Welt der manifesten Kunstwerke, wo der „Kampf der Ismen“ herrscht, das Thema des Buches, sondern eine latente Subzone von Mentalitäten, der träge Strom des „Kunstwollens“, der die künstlerische Avantgarde an ihren entgegengesetzten Polen erfassen kann. Wyss zeichnet den Ideenhimmel der Moderne nach – und „unscharfe Gedanken“ erfordern „unscharfe“, soll heißen: literarische, Herangehensweisen.

Das heißt nicht, daß nicht am Einzelwerk minutiös, bisweilen erbarmungslos nachgewiesen würde, wohin epochale Strömungen führen können. Das Kapitel über den italienischen Architekten Guiseppe Terragni beispielsweise, dessen „Danteum“ auf dem Trajan- Forum in Rom dem Faschismus ein Denkmal setzte, beschreibt die Ikonographie einer verirrten Kunstreligion. Die derart diskreditierte Avantgarde besaß allerdings, so Wyss, einen künstlerischen Gegenpart: Die lustig- bunte, apolitische Welt von Cézanne, Braque, Picasso bekommt als „Nominalistische Moderne“ ihre Absolution erteilt. Nicht so die „Aktionisten“ unter den Avantgardisten: Sie waren „anfällig für den politischen Sündenfall“.

Der Versuch, die „Programmsprache einer Epoche“, eine diffuse Tiefenschicht des „Kunstwollens“ zu ergründen, bleibt ein methodisches Wagnis: Die ästhetischen Mentalitäten besitzen die Eigenschaft, allgegenwärtig und doch nie manifest zu sein – das macht sie so anschlußfähig, aber auch so nebulös. Man denke an Jean Baudrillards Konzept der „Simulation“, das zu den ganz heißen Anwärtern auf den „unscharfen Gedanken“ der Gegenwart zählt. Vielleicht liegt in der Simulation auch die ästhetische Mentalität, die Wyss selbst konditioniert. Ein kunstgeschichtliches Werk, das sich selbst als Fiktion beschreibt, eine „Methode, die sich erst während des Schreibens generiert“, dann das raffinierte Themen-Switching von Le Corbusier zu Mussolini, von Mondrian zu Heidegger, von Steiner zu Kandinsky, von Nietzsche zu Raffael – und alles auf „Ideengewölk“ basierend –: Da liegt es nahe, von simulierter Kunstgeschichte zu sprechen und in Wyss nicht den „Sektenbeauftragten“, sondern den Unternehmensberater seiner Zunft zu sehen. In dieser Rolle als Agent des Wandels rechnet Wyss ihr vor, wie sie ihre Potemkinschen Dörfer baut, ohne selbst etwas anderes zu wollen. „Der Wille zur Kunst“ sollte eigentlich heißen: wenn schon Roman, dann aber richtig.

Beat Wyss: „Der Wille zur Kunst. Die ästhetische Mentalität der Moderne“. DuMont-Verlag 1996, 49,90 DM

Am Donnerstag findet um 20 Uhr in der Berliner Humboldt-Universität ein Streitgespräch zwischen Beat Wyss und Edouard Beaucamp („FAZ“) statt

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