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Rote Rücklichter ins Ungewisse

■ Neu im Kino: „Die Überlebenden“, eine subtile Recherche nach drei Selbstmördern eines Abiturjahrgangs

Vollzähligkeit ist selten auf Klassentreffen. Manche ehemaligen MitschülerInnen sind einfach nicht mehr aufzutreiben, andere haben keine Lust, Leute wiederzutreffen, um sich anzuhören, wie erfolgreich sie inzwischen sind, wieder andere schlagen nach dem letzten Schultag drei Kreuze – das war's. In Andres Veiels nur scheinbar kunstlosem Dokumentarfilm „Die Überlebenden“, in dem sich ein Abiturjahrgang von 1979 nach 17 Jahren wieder trifft, bleiben drei Stühle leer, weil Rudi, Tilman und Thilo sich umgebracht haben. Veiel, selbst Schüler jener Abiturklasse aus einem biederen Stuttgarter Vorort, geht der Frage nach: Was hat die drei Klassenkameraden in den Tod getrieben? Klassisch die Frage, hinterhältig die filmische Lösung: es gibt keine. Denn Veiel reicht es nicht, die Biographien der drei Selbstmörder zurückzuverfolgen, bis zu dem Punkt, wo sie keinen Aufschluß mehr liefern über mögliche Suizidmotive. Sobald Veiel befürchtet, daß „die Rutschbahn zum Tod zu glatt wird“ (Veiel) und der Zuschauer mit einem selbstzufriedenen „Aha, deshalb also“ aus dem Kino entlassen werden könnte, demontiert der Film seine eigenen Hypothesen: Die Toten sind nicht besser als „Die Überlebenden“.

Zum Beispiel Thilo, auf frühen Super 8-Aufnahmen: lange Mähne, „Deep Purple“ immer griffbereit, massive Sponti-Stimmung strahlt er aus, wie er da durch den Schnee stapft. Ein End-70er-Idealist, möchte man meinen. Einer, der sich für die RAF einsetzt, zum Frankreich-Trip abhaut, dann anfängt, Medizin zu studieren. Die normalbiographische Kehrtwendung zum Bürgerlichen? Nicht ganz: Die Mutter erinnert sich, wie der Thilo sich mit dem Vater gebalgt hat, weil er ihm unterstellt hat, ein NS-Richter gewesen zu sein. Hat die stickige Stuttgarter Vorort-Luft Thilo an den Rand gedrängt? Ein paar Bilder genügen dem Regisseur, um das enge Soziotop Stuttgart-Möringen zu zeigen. Verhuschte Blicke hinter Gardinen, Rolladen rasseln herab.

Die Klassenkameradin – Typ schwäbische Pfarrerstochter – erinnert sich: Thilos große Liebe war Amanda, an die hätte sie nicht heranreichen können. Der Regisseur hat sie in New York ausfindig gemacht: Amanda, ein Gesicht, in dem sich verlorene Illusionen eingegraben haben; die hatte sie damals noch, wenigstens für Thilo: „Vielleicht erwartete er mehr Verliebtheit von mir“.

Veiels Methode – angewandt auf alle drei Selbstmörder – erschließt sich unmerklich und dann nachdrücklich: ein biographisches Puzzle-Spiel, akribisch zusammengesetzt, planvoll wieder zerrissen. Dadurch geht jedesmal mehr jener Eindeutigkeit verloren, die es uns leicht gemacht hätte, unsere Vorstellungen aufrechtzuerhalten, welche tragischen Motive zu einem Selbstmord taugen. Bei Veiel bleiben bleiben bloß Fragmente dreier Leben, die sich selbst ein qualvolles Ende gesetzt haben – durch Autoabgase. Daraus macht er keinen Hehl, wie das Schlußbild zu beweisen scheint. Da fahren die alten Kameraden in einer langen Totalen in die Nacht hinein, ins Ungewisse. Eine Kette roter Rücklichter. „Das könnte jedem von uns passieren, daß plötzlich das Licht ausgeht“, wirft einer noch vorher drohend in die Runde. Und meint das Lebenslicht. Alexander Musik

Heute bis Samstag um 18.30 Uhr im Kino 46.

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